CD-Tipp

Joanna Bailie: Artificial Environments

Stand
AUTOR/IN
Björn Gottstein

Audio herunterladen (13,6 MB | MP3)

Umweltgeräusche und Musik werden über das Ohr wahrgenommen. Um das eine von dem anderen zu trennen, bauen wir Konzertsäle und tragen Kopfhörer. Mit diesem Phänomen hat sich die Komponistin Joanna Bailie auf ihrer neuen CD „Artificial Environments“ auseinandergesetzt.

Plus-Minus-Ensemble

Umgebungsgeräusche treffen auf Musik

"Artificial Environments" nennt Joanna Bailie ihre Kompositionen. Künstliche Umgebungen. Landschaften aus Klang. Umgebungsgeräusche treffen darin auf Musik. Field recordings auf Komponiertes.

Einzigartige Gestaltung mit Poesie

Nun wäre es nicht der Rede wert, wenn es nur um diese eine Formel ginge. Ein Zuspielband mit Umgebungsgeräuschen ist in der Neuen Musik nun wirklich keine Sensation. Aber die Sorgfalt und die Poesie, mit der Joanna Bailie ihre Environments gestaltet, sind einzigartig, ja sogar ein wenig sensationell. Zum einen sind da die Aufnahmen, karge, konzentrierte Field recordings, bei denen meist ein einzelner Klang im Mittelpunkt steht.

Einzelne Klangerscheinungen werden isoliert und sorgfältig betrachtet. Bailie gewährt diesen Aufnahmen viel Raum. Nehmen wir den Zyklus Symphony – Street – Souvenir. Im ersten Satz ist das "Umgebungsgeräusch", wie es der Titel andeutet, eine Sinfonie, also selbst Musik. Es läuft: die erste Sinfonie von Johannes Brahms. Die Aufnahme wird elektronisch manipuliert, als tauche man tief in den brahmsschen Klang ein. Hinzu kommt die von Bailie komponierte Musik, die sich zunächst an die Musik von Brahms anschmiegt, sich dann aber zunehmend verselbständigt.

Ergänzender zweiter Hörraum

Der zweite Satz trägt dann den Titel "Street". Die Glocken der Tonbandaufnahme finden ein Echo im Klavier, der Verkehr im Hintergrund wirkt friedlich, geradezu idyllisch. Die Instrumente suchen sich einen Ort zwischen den Umgebungsgeräuschen, ohne etwas zu zerstören oder zu überlagern. Sie wirken wie ein zweiter Hörraum, der die Außenwelt umsichtig ergänzt.

Und der dritte Satz? Souvenir. Im Mittelpunkt: eine Spieluhr mit einer japanischen Volksweise über die Pracht der Kirschblüte. Auch hier verändert Bailie das Original, vornehmlich die Geschwindigkeit. So entstehen Leerstellen, aber auch eine erhöhte Aufmerksamkeit für Details. Die komponierte Musik sucht sich wieder einen eigenen Raum. Sie grundiert die Spieluhr und löst ihren Klang auf.

Verbindung zwischen dem äußeren und dem inneren Hörraum 

Joanna Bailie, 1973 in London geboren, seit 2016 in Berlin, hat mit ihren Artificial Environments eine eigene Form geschaffen. Viel von der Größe dieser Musik liegt in der Sorgfalt, ja der beinahe zärtlichen Art, mit der Bailie die Klänge behandelt, Sie stellt musikalische Situationen her, in die man sich versenken kann, Gleichzeitig stellt sie eine Verbindung her zwischen dem äußeren Hörraum und dem inneren Hörraum, dem Eigenen der Musik. Die Umgebungsgeräusche sind das Klangobjekt,  die komponierte Musik, wie ein Subjekt, das "ich" sagt. In manchen Stücken ergreift die Komponistin sogar selbst das Wort.

Eine CD, die musikphilosophische Fragen aufwirft

Jetzt liegen erstmals mehrere dieser Artifical Environments auf CD vor. Eingespielt hat sie das Ensemble Plus-Minus aus London, das Bailie 2003 mitgegründet hat und zu dem sie bis heute ein enges Verhältnis pflegt. Herausgekommen ist eine CD, die musikphilosophische Fragen aufwirft, wie die nach dem Objekt und dem Subjekt, dem Innen und dem Außen in der Musik, die mit ihrer ruhigen Klanglichkeit aber auch einen anderen, eher emotionalen und kontemplativen Zugang ermöglicht.

Stand
AUTOR/IN
Björn Gottstein