Deutschpop

Neues Album von AnnenMayKantereit: Banales dramatisch besungen

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AUTOR/IN
Dirk Schneider

Auf „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ geht es wieder um den eher banalen Alltag einer immer noch gut behüteten deutschen Mittelschicht. Aber es finden sich auch einige Blicke an die Ränder dieser Komfortzone, die die aus Köln stammende Band bisher thematisch kaum verlassen hat.

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Die kleinen Dinge des Lebens

„Und wenn du fällst, fang ich dich auf“  – Es muss um Großes gehen in diesem Lied mit dem Titel „Kreisen“. Aber nein, stopp, wir sind hier bei AnnenMayKantereit.

Es geht lediglich um die Sehnsucht danach, mal wieder einen ausgelassenen Abend zu haben, ein bisschen zu tanzen, vielleicht sogar, oha, sich zu betrinken. Und wenn du dann hinfällst, fang ich dich auf.

Im Stück „Es ist Abend“ geht es dann um das Gegenteil, die Sehnsucht nach einem ganz entspannten Abend mit Freunden – aber warum muss das musikalisch gleich so angelegt sein, als handele das Lied von einem Trauerfall?

Dem Alltäglichen das Gefühl von Tiefe geben

Lieder über die kleinen Dinge musikalisch eine Nummer zu groß anzulegen, das ist das Rezept von AnnenMayKantereit. Dem Alltäglichen wenigstens das Gefühl von Tiefe zu geben, dabei hilft auch Henning Mays markant-raue Stimme.

Ja, bestimmt ist er wirklich umwerfend, der Erdbeerkuchen, den May im gleichnamigen Stück besingt. Und Begeisterung über kleine Freuden, klar, das ist auch wichtig in schwierigen Zeiten.

Aber es wirkt schon sehr naiv, wenn nicht gar übergriffig, wenn Henning May sich dann ein paar Lieder weiter einer, wie er singt, „wunderbar demütigen“ Katharina annimmt. Die Frau leidet offenbar an Depressionen, und jetzt soll sie sich Mays „ist doch alles nicht so schlimm“-Lyrik anhören.

Die Mittelschichtsblase bleibt

Aber es gibt auch Stücke, die positiv aufhorchen lassen, auf „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“, dem neuen Album von AnnenMayKantereit. Zum Beispiel wenn in „Lottoscheine“ mit wenigen, treffenden Worten der womöglich finale Streit eines vom Alltag ausgebrannten Paares beschrieben wird.

Oder wenn May über Drogen singt: Den Alkoholismus eines Freundes in „Heute Abend wird es regnen“, oder den eigenen Besuch beim Dealer im Stück „Weisshaussstraße“.

Auch auf „Es ist Abend und wir sitzen bei mir“ sind AnnenMayKantereit noch lange nicht so weit, thematisch ihre Mittelschichtsblase zu verlassen, diese Komfortzone, über die sie mit einem dramatischen Gestus erzählen, als ginge es in ihren Liedern um viel mehr als ein bisschen Liebeskummer.

Widersprüche des Wohlstands vermisst man

Ihr Gratiskonzert für die Demonstrierenden von Lützerath im Januar war vielleicht ein Zeichen von Engagement, vielleicht aber auch nur PR. In ihren Texten sucht man die Widersprüche unseres Wohlstands, für die auch der Protest gegen den Braunkohletagebau steht, vergebens.

Doch immerhin fangen AnnenMayKantereit ganz langsam an, auch mal an die Ränder zu schauen. Dahin, wo die Risse etwas tiefer sind, als dass man sie mit einem guten Stück Erdbeerkuchen oder drei Tagen am Meer wieder ins Lot bringen könnte.

Rock „Kargo“ von Kraftklub: Eines der aktuell besten Alben zur deutschen Gegenwart

Dass eine der einflussreichsten deutschen Rockbands aus Chemnitz kommt, ist durchaus bemerkenswert. Noch bemerkenswerter ist, dass sie trotz ihres Erfolges auch in Chemnitz geblieben ist. Nach fünf Jahren melden sich Kraftklub mit „Kargo“ zurück und darauf denkt die Band nicht nur über die Welt, sondern auch über sich selbst nach. Ein Album ganz ohne schwache Songs, findet Rezensent Dirk Schneider.  

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