Buchkritik

Neue Biografie über Hannah Arendt: Die Kult-Denkerin als Aktivistin

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AUTOR/IN
Eva Marburg

Thomas Meyer will mit seiner neuen Biografie zur Starphilosophin Hannah Arendt das erzählen, was andere umgangen haben. Seine Perspektive liegt in der Betonung von Arendts praktischen Tätigkeiten, dazu legt er erstmals ausführliche Recherchen offen. Doch die über 500 Seiten starke Biografie bekommt das Phänomen Hannah Arendt nicht richtig zu fassen.

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Hannah Arendt als erste große Medien-Intellektuelle

Das erzählen, was andere umgangen haben, am Rande oder gar nicht behandelt haben – das will die neue Biografie von Thomas Meyer zu Hannah Arendt leisten. Aber geht das überhaupt? Neues entdecken im Leben und Denken der durchkommentierten Ikone der Philosophie und politischen Theorie?

Oder, wie sie hier in einem Kapitel verhandelt wird, die erste große Medien-Intellektuelle – womit der sagenhafte Erfolg ihres Fernsehinterviews mit Günther Gaus gemeint ist. Schon bei der Erstausstrahlung 1964 zur Legende erklärt, hält es bis heute Kultmaterial bereit, wie ihr berühmtes „Ich will verstehen“.

Praktische Tätigkeiten im Zentrum der Biografie

Die Perspektive dieser Biografie liegt in der Betonung von Arendts praktischen Tätigkeiten, die Thomas Meyer als ihren politischen Aktivismus verstanden wissen will. Einen großen Schwerpunkt bildet daher ihre Zeit im Pariser Exil, in das sie Ende 1933 geflohen war und in dem sie sich mit einer Hilfsorganisation unermüdlich dafür einsetzte, dass jüdische Kinder und Jugendliche aus Deutschland und Osteuropa in das damalige Palästina gerettet werden konnten. Hierzu legt das Buch erstmals ausführliche Recherchen in den Archiven offen. 

Jüdischer Kontext für Hannah Arendt entscheidend

Thomas Meyer stellt vor allem den jüdischen Kontext für das Denken von Hannah Arendt heraus, der für sie verpflichtend war: Ihre weitsichtigen Antisemitismus-Studien, die mit einer Analyse der jüdischen Assimiliations-Geschichte einhergingen, ihre Feststellung, dass totalitäre Systeme und die Singularität der Shoah menschengemacht waren und daher prinzipiell immer wieder geschehen können.

Ihr Schreiben war eins aus der Katastrophe heraus, macht die Biografie deutlich, sie operierte sozusagen am offenen, gegenwärtigen Herzen der Geschichte. Dass sie als Jüdin mit dem Vernichtungswillen der Nationalsozialisten gemeint war, aber überlebt hatte, stattete sie mit dem Auftrag aus, Möglichkeiten zu entwerfen und dafür zu sorgen, dass sich die Dinge nicht wiederholen.   

Wissen zur Star-Philosophin wird vorausgesetzt

Das ist alles richtig, trotzdem bekommen die über 500 Seiten des Buches das Phänomen Hannah Arendt nicht zu fassen. Das liegt zum einen an den gewählten breiten Schwerpunkten, die die Darstellung in der Gesamtheit oft in eine Schieflage bringen.

Zum Beispiel ihr Ehemann Heinrich Blücher, ihr zentraler Gesprächs- und Denkpartner kommt kaum vor – an anderer Stelle wird ihr wichtiges Werk „Vita Activa“ nahezu ausschließlich mit Martin Heidegger begründet und gelesen, was an der eigentlichen Bedeutung des Buches nun wirklich komplett vorbeigeht.

Überhaupt ist die Biografie in der Wiedergabe ihrer Werke stellenweise nahezu kryptisch und sonst im Stil eher an Daten, Fakten und zeitgenössischen Kontexten interessiert – man muss dann schon vorher genau wissen, was bei der sogenannten „Eichmann-Debatte“ los war, um die hier eingebrachten Bezüge zu verstehen.

Bleibt die Frage, was diese Biografie – über das Aufwerfen neuer Archivdetails hinaus – eigentlich will. Ihr Werk jedenfalls ist gerade in unserer Gegenwart wieder aktueller als zuvor.       

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