Buch-Tipp

Das letzte Buch von Martin Geck: „So sah die Welt Beethoven“

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AUTOR/IN
Matthias Nöther

Im Beethoven-Jahr 2020 hätte er vermutlich auf zahlreichen Gesprächspodien gesessen, aber der Musikwissenschaftler Martin Geck starb im November 2019 im Alter von 84 Jahren. Das letzte von Gecks unzähligen Büchern über Ludwig van Beethoven war damals bereits abgeschlossen, aber noch nicht verlegt und erschienen.

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In den letzten Monaten seines Lebens hat sich Geck damit auseinandergesetzt, wie wechselvoll Personen aus Geistesgeschichte, Musik und Politik auf Ludwig van Beethoven und seine Musik geblickt haben. Das Buch „So sah die Welt Beethoven. Momentaufnahmen in Wort und Bild aus zweieinhalb Jahrhunderten“ erscheint zum Beethoven-Jubiläum im Olms-Verlag.

Schon in Beethovens letzten Lebensjahren wuchs neben dem realen Komponisten, der bekanntlich ziemlich einsam war, ein Beethoven der Erzählungen und Legenden heran. Dem Fackelzug zu Beethovens Begräbnis in Wien 1827 sollen zwischen zehn- und dreißigtausend Menschen gefolgt sein. Vor dem Zeitalter der Massenmedien ist schwer vorstellbar, dass dies alles Kenner von Beethovens Musik waren. Ein Korrespondent des Pariser Kulturmagazins "Le Globe" beobachtete das volksfestartige Begräbnis mit Erstaunen.

„Seine Musik ist in Frankreich kaum bekannt: Erinnern wir uns aber an die Wirkung einer seiner Sinfonien, die im letzten Jahr hier vom Concert spirituel aufgeführt wurde. Dieser wunderbaren Sinfonie möchten wir gleich in der nächsten Woche erneut lauschen: Wir werden sie mit Beifall begrüßen wie die Grabrede auf ein großes Talent.“

Gemälde „Beethovens Begräbnis". Leichenzug verlaesst das Sterbehaus.
Das Aquarell von Franz Stoeber „Beethovens Begräbnis" vermittelt einen Eindruck der Größenordnung der Trauerfeier am 29. März 1827 in Wien.

Der Mythos Ludwig van Beethoven scheint in den Jahren nach seinem Tod als Wechselwirkung entstanden zu sein: Wer von seiner Musik gepackt war, sammelte einige Informationen über Beethovens Leben und stellte sich schnell den einsam schaffenden und leidenden Helden vor. Wer dieses Bild bereits im Kopf hatte, ließ sich gerne umso mehr von Beethovens Musik beeindrucken. Gerade die Zeugnisse aus den 1820-er und -30er Jahren, die Martin Geck für sein neues Beethoven-Buch herausgesucht hat, spiegeln dieses Hin und Her: Aussagen etwa vom Beethoven-Schüler Carl Czerny, von Bettina von Arnim oder von Robert Schumann, der Beethoven erstmals und sehr fantasievoll als zeitgeschichtliche und politische Figur identifiziert.

„Bald darauf tritt der junge Beethoven herein, athemlos, verlegen und verstört, mit unordentlich herumhängenden Haaren, Brust und Stirne frei wie Hamlet, und man verwunderte sich sehr über den Sonderling; aber im Ballsaal war es ihm zu eng und langweilig, und er stürzte lieber in's Dunkle hinaus…“

Schumann wird geradezu zum kühlen politischen Denker vor dem Hintergrund der unzähligen Romantiker, für die Beethovens Musik lediglich als Spiegel der eigenen Empfindungen sahen. Typisches Beispiel war der Dichter Nikolaus Lenau, der an Depressionen litt. Er fühlte sich durch Beethovens Musik angesprochen und projizierte gerne seine eigene Melancholie auf den längst gestorbenen Komponisten.

„So hat niemand den Schmerz verstanden wie Beethoven. Was Laokoon für den physischen Schmerz, das ist er für den der Seele. Er weiß seine Schlangen an das Gemüt zu legen, daß wir unter ihrem Druck aufstöhnen möchten. Gegen diesen Schmerz sind die schmerzhaftesten Partien Lord Byrons oberflächliches Kitzeln und Kauen. Beethoven stand öfter in der Nacht auf, trat zum Klavier, spielte einen Gedanken, ging stundenlang im Zimmer auf und nieder und spielte in Pausen immer wieder dasselbe. Es war ihm noch immer nicht tief genug hinabgedrungen in die Tiefe des Menschenschmerzes, er wollte diesem die letzte Türe aufmachen, hinter welcher nichts mehr ist als Verzweiflung.“

Martin Gecks Auswahl von Zitaten aus dem zwanzigsten Jahrhundert hat einige Überraschungen parat. Gerade nach dem Ersten Weltkrieg gab es einen interessanten Bruch im Beethoven-Bild. Für viele jüngere Komponisten war Beethoven damals nicht mehr das Maß aller Dinge, so für Georges Auric von der Pariser Groupe des Six – dem es geradezu peinlich war, zum hundertsten Todestag 1927 etwas über sein Verhältnis zu Beethoven schreiben zu müssen.

„Denn er geht mich gar nichts an und ich glaube, auch die Jungen nach Stravinsky nicht mehr. Es ist kein Widerspruch, wenn ich sage, daß Kinder und ganz junge Musikschüler vor allem seine Sonaten spielen sollten, so wie wir alle einmal wundervolle Indianerbücher, und zwar mit guter Wirkung für uns, gelesen haben. Daß es eines Tages eine Auferstehung Beethovens geben wird, wie die eines Bach, ist vollkommen ausgeschlossen.“ ‘‘

Im zwanzigsten Jahrhundert hat sich in westlichen Gesellschaften eine skeptische Haltung gegenüber Pathos und Heldentum verbreitet. Die Leser von Gecks Buch, die ohnehin schon einiges an Reflexionsvermögen über Musik und Gesellschaft aufbringen müssen, dürften diese Skepsis weitgehend teilen. Deshalb ist für sie vermutlich Martin Gecks Panoptikum der Ideologen aus Faschismus und Kommunismus nicht so interessant. Denn hier wird Beethoven immer wieder auf ähnliche Art vereinnahmt. Interessanter dürfte für sie zu lesen sein, wie es im Detail aussieht, wenn jemand Beethoven verehrt und dennoch erheblich an der Zeitlosigkeit von Beethovens heldisch kämpfenden musikalischen Subjekten zweifelt.

„Denken wir an den Anfang des ersten Satzes von Beethovens Neunter Sinfonie: Hat es je eine prägnantere Erklärung der entschlossenen, ja störrischen Haltung des kompromißlosen Willens zur Durchsetzung der eigenen Entscheidung gegeben? Aber muß nicht andererseits genau diese Geste, wenn man nur leicht die Perspektive verschiebt, als lächerliches Getue erscheinen, als hysterisches Herumfuchteln, das durchblicken läßt, daß hier ein Hochstapler am Werk ist?“

Man muss nicht den philosophischen Horizont von Slavoj Zizek mitbringen, um das kleine letzte Beethoven-Büchlein des Musikwissenschaftlers Martin Geck zu genießen, das im Olms Verlag für neunzehn Euro achtzig erschienen ist. Mitbringen sollte man die Bereitschaft, gleichzeitig zur Lektüre noch einmal mit anderen Ohren in die eine oder andere Stelle aus Beethovens Sinfonien, Sonaten und Streichquartetten hineinzuhören. Es kann ja auch eine willkommene Gelegenheit sein.

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Matthias Nöther