Literaturpreis

Pulitzerpreis an Colson Whitehead für "Die Nickel Boys"

Stand
AUTOR/IN
Carsten Otte

Colson Whitehead hat zum zweiten Mal den Pulitzer Preis gewonnen. Nach „Underground Railroad“ 2017 erhält er den renommierten amerikanischen Literaturpreis in diesem Jahr für seinen Roman "The Nickel Boys".

Audio herunterladen (10,7 MB | MP3)

Carsten Otte im Gespräch mit Gerrit Bartels über den Roman "Die Nickel Boys" von Colson Whitehead

Dem vielfach ausgezeichneten US-amerikanischen Schriftsteller Colson Whitehead ist auch mit „Die Nickel Boys“ ein großer Wurf gelungen.

Die Geschichte von Elwood Curtis, der sich Anfang der 1960er Jahre als guter Schüler darauf freut, als einer der ersten schwarzen Jugendlichen zum College gehen zu dürfen, der aber Opfer der rassistischen Justiz im Süden der Vereinigten Staaten wird, in einer Besserungsanstalt landet und dort von sadistischen Aufsehern gequält wird, ist so wahr wie erschütternd, so fiktiv wie real.

Whitehead weiß auch in diesem Werk, entlang historisch verbrieften Begebenheiten im besten Sinne spannend zu erzählen, aus den Dokumenten ein literarisches sowie politisches Kunstwerk zu schaffen, das in seiner Mischung aus Sachlichkeit und Einfühlung überzeugt.

Die Rassentrennung ist aufgehoben, doch Ressentiments sind geblieben

Elwood Curtis ist ein guter Schüler. Er träumt von einem selbstbestimmten und beruflich erfolgreichen Leben. Zu Weihnachten 1962 bekommt er von seiner Großmutter eine Platte mit Reden seines Idols Martin Luther King geschenkt, und mit den Leitsätzen des berühmten Predigers wird sich Elwood ein Leben lang beschäftigen.

Da seine Eltern sich aus dem Staub gemacht haben, wächst der afroamerikanische Junge bei Oma Hattie auf, die mit liebenswerter Strenge darüber wacht, dass der kluge und aufrichtige Teenager keinen schlechten Umgang hat.

Denn sie weiß nur zu gut, dass die Rassentrennung zwar offiziell aufgehoben ist, der Rassismus der Weißen den schwarzen Alltag aber weiterhin mühsam macht. „Jim Crow verschwindet nicht einfach so“, sagt die Großmutter.

Eine Bühnenfigur wird zum Synonym für die Diskriminierung

Jim, die Krähe, war im 19. Jahrhundert eine von Weißen entwickelte stereotype Bühnenfigur, die den singenden und tanzenden Schwarzen darstellte, einen trickreichen Schwindler und Dieb.

Später wurde aus der rassistischen Folklore ein kritisch verwendetes Synonym für alle Gesetze und ungeschriebenen Regeln der Weißen, die darauf abzielen, schwarze Mitbürger zu diskriminieren.

So wird auch das Schicksal des gerade mal sechzehnjährigen Jugendlichen durch die alten Machtstrukturen und immer noch wirkmächtigen Ressentiments zerstört.

Elwoods Unschuldsbeteuerungen nützen ihm nichts

Auf dem Weg zum College wird er von Rodney in einem Plymouth mitgenommen, er setzt sich in den – was der Junge natürlich nicht weiß – geklauten Wagen, nach dem die Polizei sucht und den sie just an diesem Nachmittag auch finden wird.

Es hilft Elwood nicht, seine Unschuld zu beteuern, er wird wegen Autodiebstahls verurteilt und in eine sogenannte Besserungsanstalt geschickt, die sich außerhalb seiner Heimatstadt Tallahassee befindet, irgendwo im sumpfigen Niemandsland von Florida.

Dort begrüßt ein sadistischer Oberaufseher namens Maynard Spencer die eingeschüchterten Neuankömmlinge: „Wenn man hier landet, dann deshalb, weil man nicht weiß, wie man sich anderen Menschen gegenüber anständig benimmt.“ Dabei wissen in dieser Anstalt vor allem die Angestellten nicht, wie sich anständige Menschen zu benehmen haben.

Folter bis zum Tod ist keine Seltenheit in der Besserungsanstalt

Kaltblütig und kriminell sind Leute wie Spencer, eigentlich gehörten sie bestraft und weggesperrt. In einem eigens für die Prügelstrafe eingerichtetem Ort, dem berüchtigten Weißen Haus, schlagen die brutalen Aufseher die ungezogenen Kinder grün und blau.

Wer besonders renitent ist, wird auf schlimmste Weise gefoltert, ermordet und im anstaltseigenen Friedhof verscharrt. Es geht für die Kids also darum, irgendwie durchzuhalten und zu überleben, denn mit der Volljährigkeit endet die Tortur zumindest in diesem Lager.

Die Geschundenen aber spüren, dass sie die körperlichen Qualen nicht so lange aushalten und dass die seelischen Verletzungen niemals verheilen werden. Daher versuchen die Klugen und Mutigen, auszubrechen und das Weite zu suchen, was in der Einöde so gut wie unmöglich ist.

Das Leben der Kinder ist „keinen Nickel“ wert

In der Besserungsanstalt, die nichts und niemanden verbessert, herrscht weiterhin strikte Rassentrennung, und natürlich werden die farbigen Kinder ganz besonders schikaniert. Auch Elwood wird mit dem Riemen, der zynischer Weise "Black Beauty" genannt wird, im Weißen Haus so lange gequält wird, bis er ins Koma fällt.

Das Nickel – so der Name der Anstalt – ist die Hölle auf Erden, und die „Jungs erzählten gern, die Anstalt heiße so, weil ihr Leben nicht mal einen Nickel, also fünf Cent wert sei, aber das war falsch.“ Tatsächlich wurde die Einrichtung nach dem ehemaligen Leiter Trevor Nickel benannt.

Aber das interessiert die Nickel Boys nicht wirklich, denn die schrecklichsten Geschichten scheinen sich doch zu bewahrheiten.

Der Roman basiert auf wahren Begebenheiten

Colson Whitehead verarbeitet in seinen Roman wahre Begebenheiten, nämlich die Geschichte der „Dozier School for Boys“ in Marianna, Florida. Berichte von Zeitzeugen und eigene Recherchen sind in den Text eingeflossen, wie der Autor im Nachwort erklärt.

Autor Colson Whitehead (Foto: Hanser Verlag - Peter-Andreas Hassiepen)
Autor Colson Whitehead

Stellt sich zu Beginn der Lektüre noch die Frage, ob es sinnvoll ist, aus dem Stoff eine Fiktion zu entwickeln, gibt die klug komponierte Prosa schon bald überzeugende Antworten, und zwar sowohl die Sprache als auch die Dramaturgie betreffend.

Anders als in Whiteheads Erfolgsroman „Underground Railroad“, der in nahezu surrealen Szenen von geheimen Routen erzählt, auf denen Sklaven noch vor dem amerikanischen Bürgerkrieg aus den Südstaaten nach Nordamerika geflohen sind, kommt die Geschichte der „Nickel Boys“ ohne solche Formenspiele aus.

Berührende Schicksale

Dem wissenden und mitfühlenden Erzähler kommt die Aufgabe zu, das Spannungsverhältnis zwischen Ernst und Empörung auszuloten. Nicht zuletzt durch gekonnte Auslassungen und einen völlig überraschenden und dennoch plausiblen Figuren-Twist zeigt Whitehead, dass er eben nicht nur ein Arrangeur der historischen Fakten ist, sondern vielmehr ein großer Wortkünstler, der über das Grauen bedrückend klare und zugleich leidenschaftliche Sätze zu formen weiß.

Das Schicksal des Protagonisten soll berühren, und wessen Herz kein Eisklotz ist, wird sich dem ästhetischen Programm nicht entziehen können, das mit historisch versierter Sachlichkeit große Emotionen hervorruft.

Whiteheads Biographie zeigt: Gesellschaftlicher Wandel ist möglich

Die Biographie des schwarzen Schriftstellers Colson Whitehead immerhin zeigt, dass gesellschaftlicher Wandel dennoch möglich ist: 1969 in eine Familie der oberen Mittelschicht hineingeboren, besuchte er die renommierte Trinity School und studierte anschließend in Harvard.

„Die Nickel Boys“ ist ebenso preiswürdig wie der Vorgänger-Roman

Er schrieb für die New York Times und lehrte an den besten Universitäten der USA, unter anderem in Princeton, Columbia und Richmond. Neun Bücher hat er mittlerweile veröffentlicht und zahlreiche Preise erhalten.

„Underground Railroad“ wurde mit dem Pulitzer Prize for Fiction und dem National Book Award ausgezeichnet. Für die „Nickel Boys“ wären diese Ehrungen eigentlich auch fällig.

Stand
AUTOR/IN
Carsten Otte