20 Jahre nach ihrem Erstlingswerk legt Arundhati Roy nach
Vor 20 Jahren stürmte „der Gott der kleinen Dinge“ die Bestsellerlisten, und gewann 1997 prompt den Bookerpreis – der Debütroman der jungen, indischen Autorin Arundhati Roy. Quasi über Nacht wurde die bis dahin komplett unbekannte Autorin zum Liebling der literarischen Welt – aber Roy hatte gar keine Lust auf den Rummel.
Vielleicht, das sagte sie damals fast trotzig, sei „der Gott der kleinen Dinge“ nicht nur ihr erster, sondern auch ihr letzter Roman. Das ist nicht passiert – denn 20 Jahre später ist er da, der neue Roman von Arundhati Roy, „Das Ministerium des äußersten Glücks“ heißt er.
Wenn das Glück in der Welt da draußen nicht zu finden ist, dann bastelt man es sich am besten selbst- so macht es jedenfalls Anjum, er, beziehungsweise sie, schafft sich ihr eigenes, kleines Refugium, ein Gästehaus in Delhi. Voller Leben - mitten auf einem Friedhof.
Die Protagonistin führt ein Leben am Rande der Gesellschaft
Anjum ist eine der Hauptfiguren in Arundhati Roys „Ministerium des äußersten Glücks“. Sie ist ungewöhnlich, weil schwer einzuordnen, denn Anjum steht zwischen den Geschlechtern. „Transgender“ sagen wir, in Indien gibt es das Wort „Hirja“. In der indischen Geschichte genossen Hirjas besonders zu Zeiten der muslimischen Mogulherrschaft ein gewisses Ansehen – heute leben sie meist am Rande der Gesellschaft, betteln oder verkaufen ihren Körper. Immerhin: auf den Wahlzetteln werden sie anerkannt – neben männlich und weiblich kann man in Indien auch „anderes“ ankreuzen.
Anjum, nach einer extremen Gewalterfahrung tief verstört, baut auf dem Friedhof nicht nur ein einfaches Gästehaus, sondern schafft eine Art Gegengesellschaft zur grausamen Realität – einen Ort, an dem jeder Außenseiter, jeder Ausgestoßene willkommen ist.
Abseits des Paradieses werden auch Not und Elend beschrieben
Und jeder Neuankömmling bringt eine Geschichte mit – so entsteht ein Paralleluniversum von dem aus Arundhati Roy ihre Kreise zieht. Es geht hinaus auf die Straßen Delhis- der neuen „Superhauptstadt der neuen Lieblingssupermacht der Welt“ und von Delhi aus weiter, zielsicher an all die Orte, an denen in Indien Grausamkeit und Elend herrschen, da wo die Menschen unter der Korruption und den Folgen der Globalisierung leiden.
Wie erzählt man die Geschichte eines Landes, wie macht man die Schmerzen und Brüche erlebbar? In „der Gott der kleinen Dinge“, Roys Erstling, stand die Geschichte einer kaputten Familie im Mittelpunkt, diesmal erzählt Arundhati Roy einfach ganz viele Geschichten auf einmal, wenig linear oder geordnet.
Es geht um Unberührbare, um den 11. September, um das Gasunglück in Bhopal, bei dem 1984 Tausende Menschen starben und noch heute unter den Folgen leiden, es geht um die Zusammenstöße zwischen Muslimen und fanatischen Hindus, bis hin zum blutigen Kaschmir-Konflikt.
Mit poetischer Sprache verfasst Roy eine Gesellschaftskritik in Prosaform
Arundhati Roy hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten vor allem als Aktivistin verstanden – unermüdlich schrieb sie in klugen, politischen Essays gegen das an, was in Indien schief läuft. In „das Ministerium des äußersten Glücks“ schimmert die politische Aktivistin Roy auf nahezu jeder Seite durch – und vieles wirkt wie Gesellschaftskritik in Prosaform – doch zum Glück ist da auch immer noch Roys wunderschöne, poetische Sprache.
Am besten ist „das Ministerium des äußersten Glücks“ immer dann, wenn Roy ihre literarischen Bilder malt, wenn sie nicht belehrend und polemisch, sondern den Figuren zugewandt ist. Neben der Hirja Anjum gibt es noch weitere tragende Charaktere, einen Journalisten, einen traumatisierten Kaschmiri, einen Mitarbeiter des Nachrichtendienstes – alle verliebt in die gleiche Frau.
Anjums Paradies für Außenseiter steht im Zentrum der Handlung
Auch dieses Erzähluniversum eröffnet Arundhati Roy, kunstvoll-verschlungen. Ständig verschieben sich beim Lesen die Perspektiven, überlagern sich die Erzählkreise und gerade dann, wenn man sich fragt, wie die Autorin das wohl zusammenhalten will, fügt sich doch alles zu einem großen Ganzen, einem zentralen Ort, Anjums Paradies auf dem Friedhof.
Denn schließlich ist Arundhat Roys zweiter Roman auch ein Lobgesang der Utopie, ein tiefer, poetischer Einblick in die indische Gesellschaft und letztlich ein hoffnungsvolles Buch. Roy glaubt, bei aller Kritik an den Zuständen, dass die Dinge sich verbessern können, dass das Glück möglich ist. Man kann das Buch lesen als Roys Idee zur Lösung des Kaschmir-Konfliktes, man kann es aber auch in seine eigene Leserwet mitnehmen als Anleitung für das ganz persönliche Glücksministerium.