Überbordende Bürokratie beklagen viele Unternehmen in Deutschland. (Foto: Colourbox, #257659)

Zu viel Verwaltung

"Oberster Bürokratiejäger" Lutz Göbel: "Wir sacken immer weiter ab"

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Michael Lueg
SWR1-Moderator Michael Lueg (Foto: SWR, SWR1 -)
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Deutsche Firmen versinken immer mehr in Vorschriften und Verwaltung. Warum werden andere Länder besser und wir immer schlechter?

Noch nie haben Privathaushalte, Wirtschaft und Verwaltung so viel Geld für Bürokratie ausgegeben wie im letzten Jahr. Mittlerweile verwenden Handwerker bis zu 40 Prozent ihrer Arbeitszeit mit Verwaltungsarbeit.

Wir haben darüber mit Deutschlands "oberstem Bürokratiejäger", Lutz Goebel, gesprochen. Er ist Vorsitzender des Normenkontrollrates. Diese Expertengremiun berät die Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat beim Bürokratieabbau.
 

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SWR1: Ist Deutschland tatsächlich Europas "Bürokratiemonster"?

Lutz Goebel: Ich bin mir nicht sicher, ob wir die schlechtesten sind. Aber wir sacken immer weiter ab. Die anderen werden besser und wir werden schlechter. Ich denke mal, Länder wie Frankreich und Italien sind bestimmt nicht besser als wir aufgestellt. Aber Länder wie Dänemark und Estland sind Klassen besser als wir.

SWR1: Bürokratie hat unter der Ampel-Regierung offenbar weiter zugenommen. Wieso verabschieden Politiker so viele Hürden, Regelungen, Festlegungen, Kontrollmechanismen, wenn sie wissen, dass das blockiert am Ende?

Goebel: Da ist ein gewisser Automatismus drin. Die Ministerien werden immer größer und es gibt immer mehr Menschen, die Gesetze auf den Weg bringen oder Regulierung machen, um sich selbst einzuschränken. Auf der anderen Seite haben wir Europa. 50 Prozent der gesamten Gesetzgebung kommt aus Europa und dass ist immer mehr geworden. Frau von der Leyens Kommission hat hundert Prozent mehr Gesetze gemacht als die Kommission davor.

Wir sind völlig überbürokratisiert.

Und dann haben wir den dritten Aspekt. Die Kommunen müssen Entscheidungen treffen, die vorm Gesetz Bestand haben. Wenn sie als Entscheider in der Kommune einen Fehler machen, dann können Sie dafür belangt werden. Und das führt dazu, dass die Kommunalangestellten immer mehr Angst davor haben, Fehler zu machen und nach strengster Regulierung rufen, um genau zu wissen, was sie zu tun und zu lassen haben. Das sind also viele strukturelle Themen, die angepackt werden müssen.

Berge von Akten häufen sich auf dem Schreibtisch von Bürgermeister Christoph Jung in Dieblich. Komplizierte Förderanträge und zahlreiche Gutachten - die ausufernde Bürokratie erschwert ihm und vielen anderen ehrenamtlichen Bürgermeistern die Arbeit. (Foto: SWR)
Berge von Akten häufen sich auf dem Schreibtisch von Bürgermeister Christoph Jung in Dieblich. Komplizierte Förderanträge und zahlreiche Gutachten - die ausufernde Bürokratie erschwert ihm und vielen anderen ehrenamtlichen Bürgermeistern die Arbeit.

SWR1: Angeblich sind die Politiker permanent mit Abbau von Bürokratie beschäftigt, wenn man sie hört. Spüren Sie da was?

Goebel: Das kann ich so nicht nachvollziehen. Wir haben gerade das Bürokratieentlastungsgesetz 4, was vom Justizministerium angedreht wurde und was praktisch umgesetzt wird. Da sind viele, viele Vorschläge aus den Verbänden gekommen und davon sind nur wenige in die Gesetze eingeflossen. Das ist nur ein Anfang, wir müssen dringend viel mehr machen. Es kommen jetzt einige Ministerien, die noch zusätzliche Vorschläge haben. Aber das ist alles viel zu wenig. Wir sind völlig überbürokratisiert.

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Die kleinen Firmen sind die Benachteiligten, die gar nicht die ganzen Regulierungen einhalten können und die darunter leiden.

SWR1: Wo genau tauchen im Alltag am Ende die Probleme auf? Wo klemmt es?

Goebel: Es werden sehr genaue Vorgaben gemacht, was zu tun und zu lassen ist. Es werden an Gesetze, zum Beispiel Gas- und Strompreisbremse, riesige Anforderungen gestellt im allerletzten Detail, die die Kommunen vor große Herausforderungen stellen, das überhaupt umzusetzen und es am Ende zu kontrollieren.

Und der Industrie werden immer mehr Auflagen gemacht, an was sie sich alles halten soll. Das führt dazu, dass die großen Unternehmen sagen: "Ja, da kann man mit umgehen, das kostet Geld, aber wir können das." Aber die kleinen Firmen sind die Benachteiligten, die gar nicht die ganzen Regulierungen einhalten können und die darunter leiden.

Diese Grundannahme des Misstrauens gegenüber dem Bürger, aber auch gegenüber der Wirtschaft, ist so groß, dass der Staat meint, er müsse alles regulieren. Und das ist eben falsch.

SWR1: Wie kann man das in den Griff kriegen – Bürokratie reduzieren, aber ohne, dass es danach Probleme gibt durch zu wenig Regelung?

Goebel: Bürokratie hat auch etwas damit zu tun, dass Dinge gemacht werden, die gesetzlich einwandfrei sind, dass wir keine Korruption haben und ähnliche Dinge. Das ist ja schon verständlich. Aber wir haben natürlich eine Grundannahme bei der Gesetzgebung, die davon ausgeht, dass die Wirtschaft schlecht ist, sehr viel betrogen wird und Ähnliches. Dabei sind es vielleicht zwei, drei Prozent der Unternehmen, die "Schmu" machen. Dann will man eben alles im Detail regulieren und bestraft die 97 Prozent, die alles richtig gemacht haben. Und das kann es nicht sein.

Diese Grundannahme des Misstrauens gegenüber dem Bürger, aber auch gegenüber der Wirtschaft, ist so groß, dass der Staat meint, er müsse alles regulieren. Und das ist eben falsch. Genauso hat Herr Habeck jetzt gesagt, wir brauchen einen Rechtsanspruch auf Homeoffice. Das ist völliger Unfug. Wir können als Wirtschaft das selber in den Griff bekommen. Wir müssen die Leute haben, wir müssen Arbeitsbedingungen schaffen, bei denen die Mitarbeiter sagen: "Da arbeite ich gerne." Da brauchen wir keinen Rechtsanspruch. Das muss man alles gar nicht tun. Aber in der Vergangenheit wurde das immer alles bis ins Detail geregelt.

Das Interview führte SWR1 Moderator Michael Lueg.

Zur Homepage des Nationalen Normenkontrollrats: normenkontrollrat.bund.de

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