Buchtipp: "Nullerjahre" von Hendrik Bolz

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AUTOR/IN
Jochen Stöckle

Hendrik Bolz (alias Testo) hat über seine Jugend in den Nullerjahren Songs geschrieben, genau so heißt jetzt auch sein neues Buch.

Hendrik Bolz, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Testo, ist Teil des Berliner Hiphop-Duos "Zugezogen Maskulin". Geboren wurde Bolz ein Jahr vor dem Mauerfall, seine Kindheit verbringt er in den 90er Jahren in Stralsund, er lebt in einer der typischen DDR-Plattenbausiedlungen. Die 90er waren im Osten ein Jahrzehnt der Gewalt, vor allem von Rechts: "Baseballschlägerjahre" wird diese Zeit auch genannt. Hendrik Bolz hat jetzt über seine Jugend ein Buch geschrieben: "Nullerjahre".

Das Leben in Deutschland nach der Wende

Das Sonnenblumenhaus in Rostock, der Pogrom gegen die vietnamesischen Bewohner: Ein Mann in fleckiger Jogginghose und Fußball-WM-Trikot hebt den rechten Arm zum Hitlergruß. Das ist ein Bild aus dem Sommer 1992, noch nicht einmal ein Jahr nach der Wiedervereinigung. In den folgenden Baseballschlägerjahren sterben in Deutschland 132 Menschen. Schneller Vorlauf: Stralsund 2000. Immer noch Nachwendezeit: Massenarbeitslosigkeit, Rechtsradikale, Gewalt.

Eine Jugend ohne Eltern

Hendrik Bolz ist 12 Jahre alt, die Geschichte beginnt auf einer Kinder- und Jugendfreizeit. Hendrik lernt hier, was Sache ist: Wer unmännlich wirkt, kriegt auf die Fresse. Wer lange Haare trägt, kriegt auf die Fresse. Wer irgendwie links wirkt, kriegt auf die Fresse. Die Erzieher schauen weg, oder tragen selbst Bomberjacke und Springerstiefel. Hendrik lernt hart zu werden und schlägt selbst zu.

Erwachsene spielen keine Rolle

Die Erwachsenen kommen in der Geschichte so gut wie nicht vor. Man ahnt, dass sie auch im Leben ihrer Kinder nicht vorkamen. Sie sind mit sich selbst beschäftigt: arbeitslos, seit Schröders Agenda Politik in Ein-Euro-Jobs und sonstigen Maßnahmen. In Greifswald sollen Langzeitarbeitslose Erdbeeren pflücken lernen: als Pflanzen dienen lange Holzleisten auf dem Boden, die darauf drapierten Kieselsteine stellen Erdbeeren dar. In einem Zeitungsartikel aus dieser Zeit wurde den Menschen in der Stralsunder Gegend sozial bedingter Schwachsinn attestiert. Niemand glaubte an so etwas wie eine Zukunft.

Zerstörung statt Verschönerung

Die zaghaften Versuche der Stadt, die triste Platte aufzuhübschen, schlagen fehl: Die Jugendlichen kloppen alles kaputt, neue Bäume werden ausgerissen, Parkbänke zertreten. Hier sollte es nichts Schönes geben, schreibt Bolz. Während er mit seinen Freunden erste und später richtig schlimme Drogenerfahrungen macht, zerfallen die Frontlinien der Baseballschlägerjahre: Die Haare werden länger, statt Onkelz hört man jetzt die Gangsta-Rapper von Aggro Berlin. Die Gewalt aber bleibt, es gibt Tote.

Vom Rapper zum Buchautoren

All das schildert Hendrik Bolz schonungslos in Geschichten, die er montiert hat aus verschiedenen Erlebnissen, aus verschiedenen Personen. Dass er im Hauptberuf Rapper ist, merkt man der Sprache an, manchmal hat er einen ganz eigenen Rhythmus, man rappt unwilkürlich mit. Die Geschichten sind nicht leicht zu ertragen und ich frage mich: Wenn ich als Erwachsener diese ständige Spirale aus Gewalt, Nazis und Drogen schon beim Lesen krass finde, wie muss es dann erst dem Teenager Hendrik gegangen sein, der dieses Leben gelebt hat.

Die ostdeutsche Erfahrung der Nullerjahre - die der Westen nicht kennt

"Nullerjahre" beleuchtet eine Zeit, die wir hier im Westen so nicht kennen. Hendrik Bolz schafft es mit seinem Buch, dass man sich mit dem Leben der anderen beschäftigt, nach dem "Wieso" fragt und sich am Ende für ihn freut, dass er es rausgeschafft aus diesen Nullerjahren.

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Jochen Stöckle