Virologie

1,8 Millionen Corona-Infizierte? Heinsberg-Studie lässt sich nicht auf Deutschland hochrechnen

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Veronika Simon
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Ralf Kölbel

Bei einer Faschingsveranstaltung im Kreis Heinsberg hatten sich viele Menschen mit dem neuen Coronavirus infiziert. Aber aus einer Studie zu dem Geschehen sollten aus guten Gründen keine Rückschlüsse auf ganz Deutschland gezogen werden.

Das Örtchen Gangelt im Kreis Heinsberg mit seinen etwa 12000 Einwohnern ist ein Corona-Sonderfall. Hier ereignete sich bei einer Karnevalssitzung zu Beginn der Pandemie ein „Superspreading event“, wie Virologen es nennen. Beim Schunkeln und Singen haben sich viele gegenseitig angesteckt und damit für einen außergewöhnlich großen Ausbruch in dem Ort gesorgt.

Antikörpertest erkennt Menschen, die Corona-Infektion hinter sich haben


Wie viele Menschen davon betroffen waren, das haben die Forscher versucht herauszufinden. Dafür haben sie etwa 1000 Menschen aus circa 400 Haushalten untersucht. Sie haben mit einem Abstrichtest geschaut, wer aktuell infiziert ist und mit einem Antikörpertest im Blut kontrolliert, wessen Immunsystem bereits auf das Virus reagiert hat. Sie haben also auch aufgedeckt, wer die Infektion schon hinter sich hat.

Mit Antikörpertests kann ermittelt werden, wer bereits mit dem neuen Coranavirus infiziert war. (Foto: IMAGO, imago images/ZUMA Wire)
Mit Antikörpertests kann ermittelt werden, wer bereits mit dem neuen Coranavirus infiziert war.


Heinsberg-Studie lässt sich nicht auf Deutschland hochrechnen

Das Ergebnis entspricht in etwa jenem, das die Forscher vor gut einem Monat vorveröffentlicht haben: Rund 15 Prozent der getesteten Personen waren positiv und damit aktuell oder in der Vergangenheit von dem neuen Coronavirus betroffen. Das sind rund 5 mal mehr als von offizieller Seite erfasst wurden.
Eine Hochrechnung für ganz Deutschland auf Basis dieser Zahlen würde ergeben, dass ungefähr 1,8 Millionen Menschen in Deutschland die Infektion bereits überstanden haben. Doch diese Art der Rechnerei ergibt keinen Sinn.

Das Robert-Koch-Institut liefert regelmäßig die Zahlen der bestätigten Corona-Infektionen. Wie viele Menschen bundesweit tatsächlich infiziert sind oder waren, kann man nur schätzen. (Foto: IMAGO, imago images/Müller-Stauffenberg)
Das Robert-Koch-Institut liefert regelmäßig die Zahlen der bestätigten Corona-Infektionen. Wie viele Menschen bundesweit tatsächlich infiziert sind oder waren, kann man nur schätzen.

Heinsberg ist nicht Deutschland

Denn dadurch, dass der Ort, um den es geht, so klein war, hat ein Ereignis wie der Karneval gereicht, um das Virus so richtig breit zu verteilen. Das heißt: Man konnte durchaus erwarten, dass dort, in diesem Ort, ein relativ großer Anteil der Bevölkerung in Kontakt mit dem Virus war. Wie das woanders aussieht, in einem größeren Ort zum Beispiel oder in einem, in dem während der Karnevalszeit das Virus nicht verteilt wurde, das kann man aus den neu veröffentlichten Daten nicht schließen.

Wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich bereits mit dem Coronavirus infiziert waren, lässt sich auch mit den Daten der Heinsberg-Studie nicht sagen. (Foto: IMAGO, imago images/Emmanuele Contini)
Wie viele Menschen in Deutschland tatsächlich bereits mit dem Coronavirus infiziert waren, lässt sich auch mit den Daten der Heinsberg-Studie nicht sagen.

Dunkelziffer für Deutschland falsch geschätzt

Auf Anfrage des SWR haben mehrere Wissenschaftler auf die fehlerhafte Hochrechnung der Zahlen des Ortes Gangelt auf Deutschland hingewiesen. Demnach muss man als Ergebnis der Schätzung eine deutlich weitere Spanne für die Dunkelziffer angeben. Die Zahl der möglichen Infizierten in Deutschland läge dann, so die vom SWR befragten Wissenschaftler, wahrscheinlich mindestens bei knapp einer Million, könne aber auch bis zu fünf Millionen Menschen umfassen.

Die korrekte Nachberechnung anhand der veröffentlichten Studien-Daten ergibt eine deutlich ungenauere Dunkelziffer-Schätzung, als sie vom Studienleiter der Öffentlichkeit gegenüber präsentiert wurde.

Hochrechnung der Corona-Infizierten auf Deutschland sehr unzuverlässig

Die Berechnung der Infektionssterblichkeit hat zwei Unsicherheitsfaktoren, die berücksichtigt werden müssen: die Zahl der Infizierten und die Zahl der Verstorbenen.

Der Tübinger Statistikprofessor Philipp Berens sieht hier ein schweres Versäumnis in der Vorgehensweise und spricht von einem kritischen Fehler:

"Sie unterschlagen die Unsicherheit, die bei dieser letzten Schätzung eine Rolle spielt. Man hat einmal die Unsicherheit, die daher kommt, dass man die Infektionsrate nicht kennt, man hat aber zusätzlich die Unsicherheit, dass man den Anteil der tatsächlich Sterbenden unter den Kranken auch abschätzen muss."

Ein Fünftel der Infizierten hatte keine Symptome

Eines kann man aus der Heinsberg-Studie zumindest ablesen: In der Studie hatten etwa 20 Prozent der Infizierten keine Symptome. Dazu kamen einige, die nur ein einziges Krankheitszeichen hatten, wie zum Beispiel Husten oder Abgeschlagenheit. Das passt auch zu Ergebnissen aus anderen Studien, dass ein beträchtlicher Teil der Menschen gar nicht merkt, dass er oder sie infiziert nd damit wahrscheinlich ansteckend ist.

Und damit heißt das wichtigste Gebot immer noch: Abstand halten! Es lohnt sich, auch unabhängig von irgendwelchen Lockerungen, diszipliniert zu bleiben.

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