Fachleute beraten über das Ausweiten der Reihenuntersuchung von Babys auf ein genomisches Screening. Dabei würde das ganze Erbgut auf bestimmte genetische Krankheiten untersucht. (Foto: IMAGO, imago images/Cavan Images)

Genomisches Screening

Neugeborenenscreening: Das Erbgut aller Babys untersuchen?

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Ulrike Till
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Fachleute beraten über das Ausweiten der Reihenuntersuchung von Babys auf ein genomisches Screening. Dabei würde das ganze Erbgut auf bestimmte genetische Krankheiten untersucht.

Neugeborene werden in Deutschland schon seit langem auf eine Reihe schwerer, seltener Erkrankungen getestet. Bei etwa einem von tausend Kindern wird eine solche Erkrankung entdeckt. Jetzt beraten Expertinnen und Experten darüber, ob die Reihenuntersuchung von Babys deutlich ausgeweitet werden sollte - und zwar auf ein sogenanntes genomisches Screening von Neugeborenen. Dabei würde dann das komplette Erbgut auf bestimmte genetische Erkrankungen untersucht. Ist das sinnvoll und ethisch vertretbar?

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Heute die Ausnahme, bald die Regel: Genetisches Screening für alle Babys?

Schon ein paar Tropfen Blut genügen, um viel über die Gesundheit eines Babys zu erfahren. Bisher beschränkt sich die Analyse der Proben auf bestimmte Krankheitsmarker im Blut; genetische Tests sind noch die Ausnahme. Aber das könnte sich in den nächsten Jahren ändern, wenn das Erbgut aller Neugeborenen gezielt nach genetischen Erkrankungen durchsucht wird. Damit könnte man viel mehr Krankheitsauslöser entdecken als derzeit - und den Betroffenen im Idealfall rasch helfen, sagt Prof. Christian Schaaf vom Uniklinikum Heidelberg:

Wir erkennen für zahlreiche Erkrankungen, dass es hier kritische Zeitfenster gibt, in denen wir erfolgreich therapieren können. Und wenn wir das nicht tun und warten, bis die Symptome der entsprechenden Krankheiten ausgebrochen sind, dann ist es leider häufig schon zu spät. Weil irreparable Schäden an den Organen entstanden sind, die dann auch nicht mehr rückgängig gemacht werden können.

Babys wird Blut meistens in der Ferse abgenommen. Für einen genetischen Test reichen wenigen Tropfen. Ein Screening des gesamten Erbguts bei Neugeborenen könnte in den nächsten Jahren in Deutschland zugelassen werden. (Foto: IMAGO, IMAGO)
Babys wird Blut meistens in der Ferse abgenommen. Für einen genetischen Test reichen wenigen Tropfen. Ein Screening des gesamten Erbguts bei Neugeborenen könnte in den nächsten Jahren in Deutschland zugelassen werden.

Forschungsprojekt untersucht, wie ein Screening des Erbguts aussehen könnte

Im Forschungsprojekt "New Lives" untersucht ein Team aus Genetikern, Juristinnen und Fachleuten für Ethik schon seit eineinhalb Jahren, wie eine solche genomische Reihenuntersuchung aussehen könnte. Angesiedelt ist das Projekt am Uniklinikum Heidelberg und der Universität Mannheim.

Eine zentrale Frage: auf welche Krankheiten sollen die Neugeborenen überhaupt getestet werden? Es solle nur nach Krankheiten gesucht werden, die therapierbar seien, erklärt Christian Schaaf. Krankheiten, "für die therapeutische Maßnahmen oder Vorsorgemaßnahmen existieren, die den Krankheitsverlauf sehr, sehr günstig beeinflussen würden, wenn wir früh hier intervenieren." Außerdem solle es nur um Krankheiten gehen, die sich mit hoher Wahrscheinlichkeit im frühen Kindesalter manifestieren.

Fachleute streiten über den Umfang eines genomischen Neugeborenenscreenings

Etwa 100 bis 250 Krankheiten könnten einmal Gegenstand des genomweiten Screenings sein, schätzt der Heidelberger Genetiker. Welche es genau sein werden, darüber gehen die Meinungen allerdings schon jetzt auseinander.

Auch auf Krankheiten, die nicht heilbar sind, sollte getestet werden, meint Verena Romero. Ihre Tochter hat das Dup15q-Syndrom, ein seltenes neurologisches Leiden. Verena Romero hat einen Selbsthilfeverein für betroffene Familien gegründet und kämpft dafür, dass die Krankheit Bestandteil eines möglichen genetischen Screenings wird. Eine späte Diagnose bedeute viel Leid für die Betroffenen, sagt sie.

Wir haben eine Umfrage unter unseren Familien gemacht, und da war die durchschnittliche Dauer eben knapp drei Jahre, aber wir hatten auch tatsächlich Familien, da hat es über zehn Jahre gedauert mit der Diagnose. Unsere älteste Betroffene wurde mit 42 diagnostiziert.

Beim Screening werden Babys in Deutschland bisher auf einige schwere, seltene Krankheiten wie angeborene Störungen des Stoffwechsels, Mukoviszidose und Entgleisungen des Hormon- oder Immunsystems untersucht. Das Dup15q-Syndrom gehört nicht dazu. Symbolbild: Baby wird beim Arzt untersucht. (Foto: IMAGO, IMAGO)
Beim Screening werden Babys in Deutschland bisher auf einige schwere, seltene Krankheiten wie angeborene Störungen des Stoffwechsels, Mukoviszidose und Entgleisungen des Hormon- oder Immunsystems untersucht. Das Dup15q-Syndrom gehört nicht dazu.

Seltene Erkrankungen: Betroffene Familien wollen Erbgut-Screening und Frühförderung

Keine Odyssee mehr von Arzt zu Arzt - das ist nur ein Ziel, das Verena Romero erreichen will. Sie möchte die kranken Kinder auch so früh wie möglich fördern. Es geht nicht um Heilung, aber um Lebensqualität.

"In den ersten sechs Lebensjahren ist die Neuroplastizität im Gehirn am größten. Das heißt, da kann man noch sehr viel machen, da ist das Gehirn formbar", sagt Romero. "Und wenn ich von Anfang an weiß, das Kind hat Dup15q, dann kann ich den Fokus auf die Sprachentwicklung legen, und sie dort unterstützen, dass sie eben eventuell in die Sprache kommen." Denn heute lernten viele Betroffene nicht sprechen.

Viele juristische und ethische Fragen zum genomischen Screening bei Babys

Auch juristisch wirft ein mögliches genomweites Screening viele Fragen auf. Schwierig ist schon die nötige Aufklärung der Familien.

"Da haben wir natürlich das Problem, dass wir entsprechend der Eingriffstiefe dieses genomischen Screenings die Eltern so aufklären müssen, dass sie wissen, worin sie einwilligen und welche Folgen sich möglicherweise kurz-, mittel- und langfristig daraus ergeben könnten", sagt Prof. Ralf Müller-Terpitz, Direktor des Instituts für Medizinrecht an der Uni Mannheim. Das werfe Fragen auf - zum Beispiel nach der Ausgestaltung der Einwilligung und wie viel Information man gebe.

Und vor allem: Wer soll die Eltern konkret aufklären? Nur mit einem Zettel und zwei Sätzen von der Hebamme wird es beim genomischen Screening nicht funktionieren. Ob Ärztinnen und Ärzte sich ausreichend Zeit nehmen können, ist auch fraglich.

Es könnte sich möglicherweise als neues Berufsbild der oder die "genetic counselor" etablieren - jemand mit guter Vorbildung in Genetik, der die Familien gründlich informiert. Natürlich auch darüber, was mit den gesammelten Daten passieren soll. Im Moment ist noch völlig offen, ob sie rasch vernichtet oder im Gegenteil lange gespeichert bleiben sollen.

Es gibt viele offene Fragen beim möglichen Screening des Erbguts von Babys. Wer klärt die Eltern auf, auch über mögliche mittel- und langfristige Folgen? Wie viele Informationen brauchen sie? Symbolbild: Mann hält Baby in den Armen (Foto: IMAGO, IMAGO/Cavan Images)
Es gibt viele offene Fragen beim möglichen Screening des Erbguts von Babys. Wer klärt die Eltern auf, auch über mögliche mittel- und langfristige Folgen? Wie viele Informationen brauchen sie?

Kommt das genomische Neugeborenenscreening?

Es gibt also noch viel Stoff für Diskussionen. Der Direktor der Heidelberger Instituts für Humangenetik, Christian Schaaf, ist trotzdem sicher, dass das genomische Screening kommen wird:

Wenn wir auch in den Fachgesellschaften, in den Expertengremien darüber diskutieren: wir sehen die Entwicklungen, wir sehen auch das Potenzial, hier viel Gutes zu tun. Und wir sehen die ersten Pilotstudien in zahlreichen Ländern, so dass wir aktuell stark davon ausgehen, dass das auch in Deutschland eingeführt werden wird.

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