Dauerstress: Permanent "am Limit"
Hupende Autos, Streit mit den Nachbarn, eine Deadline im Nacken – viele Alltagssituationen stressen. Laut Studienergebnissen der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2021 fühlt sich jeder Vierte häufig gestresst. Aber was ist Stress eigentlich? Und was macht Stress mit unserem Körper?
Fight or flight: Stress versetzt Körper in Alarmbereitschaft
Welche Funktion Stress für unseren Körper hat, weiß die Biopsychologin Veronika Engert von der Universität Jena. Was wir unter Stress verstehen, sind die Reaktionen unseres Körpers auf sogenannte Stressoren. So nennt man die äußeren und inneren Reize, die Stressreaktionen auslösen.
Um einer Gefahr möglichst schnell zu entkommen oder sie zu meistern, braucht es schnell Energie. Die liefert der Stress.
Sympathikus reagiert in Sekundenbruchteilen: Stresshormone Adrenalin und Cortisol bringen Körper auf Hochtouren
Die Amygdala, wo Angst- oder Stresseindrücke im Gehirn auftreffen, leitet die Signale weiter an den Hypothalamus. Dieser reguliert als wichtige Schaltzentrale des sympathischen Nervensystems die Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin und Cortisol aus den Nebennieren.
Dadurch springen Herz und Kreislauf an, die Bronchien erweitern sich, in die Muskeln gelangt mehr Sauerstoff, sie sind angespannt und gut durchblutet. Der Mensch ist wach, aufmerksam, voller Energie.
"Eustress" versus "Dystress": Stress hat unterschiedliche Funktionen – und Folgen
Stress ist per se nichts Schlechtes, betont die Psychologin und Sportwissenschaftlerin Pia Wippert von der Universität Potsdam. Er macht uns leistungsfähig und motiviert, Aufgaben anzugehen.
Diese produktive Funktion von Stress heißt Eustress. Belastet Stress unseren Körper, spricht man hingegen von Dystress. Menschen pendeln zwischen beiden Stress-Formen hin und her.
Macht auf Dauer krank: Stress gilt als eine der größten Gesundheitsbedrohungen weltweit
Heftiger und dauerhafter Stress hat Folgen: Erschöpfung, ein geschwächtes Immunsystem, Burnout, psychische und körperliche Schäden wie Hörsturz, Kopfschmerzen, Herzinfarkt. Auch das Risiko für Suchtkrankheiten steigt.
Medizin und Psychologie fassen diese Spuren von Stress als allostatische Last zusammen. Das ist ein Belastungs-Index aus 24 verschiedenen Parametern, der sich durch moderne Verfahren, etwa der Blut- und Speichelanalyse, ermitteln lässt.
Medizinische Studien: Stress beeinflusst Behandlungserfolg
Mittlerweile weiß die Forschung, dass Stress den Verlauf von Krankheiten beeinflusst. Für Pia Wippert heißt das: Es genügt nicht, Patientinnen und Patienten medizinisch zu versorgen. Auch ihr Stresslevel muss berücksichtigt werden.
Bei Herz-Kreislauf-Erkrankungen achtet die sogenannte Psychokardiologie bereits auf Stressoren, die Psychoonkologie bietet ergänzende Therapien für die seelischen Folgen von Krebs.
Moderne Stressoren: Perfektionismus und Mental Load
Früher waren es eher wilde Tiere. Die Stressoren von heute sind vor allem psychosozialer Art: Hohes Arbeitspensum und Perfektionsstreben, ständige Erreichbarkeit, zu viele Termine, Verkehrschaos.
Hinzu kommen der Mental Load, die mentale Last, welche häufig in Familien mit Kindern, bei finanzielle Sorgen oder Pflegearbeit auftritt. Auch Kriege oder Umwelteinflüsse können psychisch belasten.
Gerade der Mental-Load-Stress lauert überall, ist oft unsichtbar und schwer messbar. Alle kennen diese kognitive Bürde und doch ist sie erst seit 2016 im Fokus der Wissenschaft, erzählt Lena Hipp vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Damals ging ein feministischer Comic viral. Sein Titel: "You should've asked" – "Du hättest doch bloß fragen müssen."
Was Hipp und ihr Team in einer Studie aufdeckten: Frauen tragen den größten Teil der mentalen Last. Sie übernehmen die meisten Planungsarbeiten, die ein Familienleben am Laufen halten. Und damit den meisten Stress.
Unter Strom: Digitale Erreichbarkeit und Überforderung führen zu Techno-Stress
Technischer Fortschritt und Digitalisierung bringen Entlastung, bedeuteten aber oft auch Stress. Hierzu hat der Wirtschaftsinformatiker Christian Maier an der Universität Bamberg geforscht. Da ist zum Beispiel die Angst, dass die Technik den eigenen Job übernimmt, erklärt er.
Zudem verschwinden die Grenzen zwischen Privatleben und Beruf immer weiter. Man hat ein Arbeitshandy, checkt abends nochmal die E-Mails und ist dann ganz schnell wieder mit den Gedanken bei der Arbeit.
Darum haben Christian Maier und Kollegen eine App entwickelt. Sie soll helfen, digitalen Stress zu reduzieren. Entsperren Userinnen und User ihr Display, poppt die Frage auf: "Wollen Sie jetzt wirklich?" – Der Testlauf der App zeigt: Die Mehrzahl legte das Smartphone immer wieder weg. Bei einem Studenten verkürzte sich die Handyzeit von elf auf knapp vier Stunden am Tag.
Individuelle Coping-Methoden: Eigene Strategien zur Stressbewältigung finden
Vielen der modernen Stressoren können wir nicht wirklich ausweichen – aber wir können lernen, klug damit umzugehen. Biopsychologin Veronika Engert empfiehlt, verständnisvoller sowohl mit den eigenen Fehlern und Problemen als auch mit denen von anderen Menschen umzugehen.
Ansonsten gilt: Es gibt kein Patentrezept gegen Stress. Jede Person empfindet Stress anders. Das gilt auch für Coping-Strategien, also Möglichkeiten, Stress zu bewältigen. Die eine geht gern tanzen und boxen, der andere braucht ab und zu eine Wochenendauszeit.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO veröffentlichte 2020 einen Comic: "Doing what matters in times of stress". Das Übungsbuch zum Umgang mit Stress und Belastung gibt es in mittlerweile 14 Sprachen.
In kleinen Dosen produktiv: Moderater Stress steigert Leistungsfähigkeit
Zu viel Stress gefährdet die körperliche und seelische Gesundheit. Trotzdem muss man ihn bewältigen lernen und nicht nur vermeiden. Das klingt paradox. Pia Wippert betont: Es ist wie beim Muskeltraining: Muskeln werden gefordert, brauchen eine Regeneration und können nur so wachsen.
Es kommt also auf die richtige Balance an: fordern, aber nicht überfordern. Ausreichend Zeit für Erholung. So werden wir belastbarer und gewappnet für neue Stress-Situationen.