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Pendeln – Odyssee zwischen Frühstück und Abendessen

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Joachim Meißner
Joachim Meißner (Foto: SWR, Foto: Patrick Höniges)
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Ulrike Barwanietz
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

Pendeln ist ein Stresstest für jede Beziehung. Es erhöht das Scheidungsrisiko und gefährdet die Gesundheit. Doch die Zahl der Pendler in Deutschland steigt weiter an. Welche Strategien könnten helfen?

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Inzwischen verlassen rund 60 Prozent der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten täglich oder wöchentlich ihre Gemeindegrenze, um zur Arbeit zu kommen. Viele, weil sie an ihrem Wohnort keinen Job gefunden haben. Oder weil sie nur befristete Arbeitsverträge haben und nicht wissen, ob sie morgen noch beschäftigt sind. Die Zeiten, in denen Wohnen und Arbeiten an einem Ort möglich war, sind für die meisten Beschäftigten Geschichte. Doch die Folgen treten immer deutlicher zutage:

  • Pendler sind häufiger gestresst als Menschen mit kürzeren Arbeitswegen.
  • Pendler haben laut einer Studie der Techniker Krankenkasse ein höheres Risiko, psychisch zu erkranken.
  • Pendler haben ein erhöhtes Scheidungsrisiko. Herausgefunden hat das Erika Sandow vom Zentrum für demografische und Altersforschung der Universität Umeå in Schweden. Sie hat tausende schwedische Pendlerbiografien ausgewertet und dabei auch festgestellt: Wenn Paare vor der Hochzeit noch keine Pendlererfahrung gemacht haben, ist ihr Scheidungsrisiko ebenfalls erhöht.

Die Folgen des Pendelns werden allerdings oft klein geredet – nicht von den Kassen, Instituten, Politikern oder Arbeitgebern – sondern zumeist von den Pendlern selbst.

Experiment: Stressniveau bei Pendlern vergleichbar mit Fallschirmspringern oder Kampfjetpiloten

Der englische Psychologe David Lewis hat mit seinem Team 40 pendelnde Männer und Frauen eine Woche mit Elektroden verkabelt und ihre Gehirnströme, Herzfrequenz und Blutdruck gemessen. Die Testpersonen fuhren täglich in den Londoner Großraum zu ihrer Arbeit – meist ganz entspannt. Aber die Messgeräte zeigten ab und zu auch unerwartete Extremwerte an. In einigen Situationen entsprach das Stressniveau dem von Fallschirmspringern oder Kampfjetpiloten. Auslöser waren dabei nicht Extrem-Situationen, vielmehr reichten schon Kleinigkeiten und das Aufeinandertreffen verschiedener Faktoren.

Dichter morgendlicher Berufsverkehr am 21.10.2016 auf der Autobahn 8 (A8) bei Stuttgart (Baden-Württemberg) (Foto: picture-alliance / dpa, picture-alliance / dpa -)
Wenn der Verkehr sich auf einem Autobahnabschnitt stapelt, dieses Ohnmachtsgefühl kennt fast jeder

Die größte Belastung sind unerwartete Verkehrsverzögerungen: Jemand ist auf dem Weg zu einem wichtigen Meeting, doch der Zug hält in einem Tunnel oder der Verkehr staut sich auf seinem Autobahnabschnitt. Dieses Ohnmachtsgefühl kennt fast jeder. Die meist folgenden Reaktionen der Pendler auch: Verzweifelt werden Smartphone-Apps abgefragt, hektisch tippend alternative Zugverbindungen oder Schleichwege über das Navi gesucht. Je weniger dabei herauskommt, weil es keine Ersatzzüge gibt oder die Nebenstraßen auch überfüllt sind, desto größer die Verzweiflung, desto höher steigt der Puls.

Pendeln ist unterm Strich meist teurer

Zwar wohnt man auf dem Land meist günstiger als in der Stadt. Bei den Mobilitätskosten aber ist es genau umgekehrt. Gerade weil es auf dem Land häufig nicht mal mehr eine Bushaltestelle, eine Grundschule, einen Supermarkt, einen Arzt und eine Apotheke gibt, muss eben alles mit dem PKW erledigt werden. Was zumeist dazu führt, dass es in einer Familie zwei oder gar drei Autos gibt, die natürlich finanziert werden müssen.

Zugtafel am Ulmer Hauptbahnhof (Foto: SWR, SWR -)
Verzweifelt werden Smartphone-Apps abgefragt, hektisch tippend alternative Zugverbindungen gesucht

Das können auch steuerliche Vorteile wie die Pendlerpauschale kaum noch in eine positive Bilanz wenden. Und selbst wenn das Landleben gegenüber der Stadt wenige hundert Euro günstiger ausfallen sollte – das Pendeln kostet Lebenszeit. Und es ist eine Herausforderung für jede Beziehung, weil bestimmte Dinge im wahrsten Sinne des Wortes, auf der Strecke bleiben.

Das Scheidungsrisiko liegt bei Pendlern bei 16 Prozent und ist damit vier Prozent höher als bei Paaren, die schon wissen, was folgt, wenn der Partner am Freitagabend mal wieder länger im Stau steht: Kino-, Theater- oder Restaurantbesuche fallen aus. Wochenendpendler sind übrigens eher Männer. Frauen pendeln meist am gleichen Tag wieder nach Hause zurück und übernehmen hier trotz ihrer Mobilität noch Kinder und Haushalt.

Die persönliche Pendler-Bilanz

Ideen, wie man die Situation verbessern könnte, gibt es: Zum Beispiel die bessere Vernetzung von Mitfahrgelegenheiten durch Apps, oder die Ausweitung von Telearbeitsplätzen. Doch das braucht Zeit.

Und so bleibt dem Einzelnen nur, seine persönliche Pendlerbilanz zu überprüfen. Stimmt die Gewinn- und Verlustrechnung in meiner momentanen Lebensphase? Kann ich den Stress wenigstens etwas abbauen? Indem ich zum Beispiel eine gesellige Fahrgemeinschaft bilde oder mal den Wagen stehen lasse und das Rad nehme, auch um mehr Bewegung in den Alltag zu bringen?

Wochenendpendler müssen ihre einsamen Abende unter der Woche ja nicht nur mit Aktenstudium verbringen. Sie können sich auch am Arbeitsort ein Fitnessstudio oder andere Freizeitbeschäftigungen suchen. Oder mit dem Arbeitgeber über flexiblere Arbeitszeiten reden.

Produktion 2018