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Jugend trainiert für den Krieg – Estlands Armee-Nachwuchs

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Michael Richmann
SWR Sport-Redakteur Michael Richmann (Foto: SWR, Anna Spieth)
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Die Furcht, vom Nachbarn Russland angegriffen zu werden, ist in Estland so groß wie in keinem westeuropäischen Land. Schon Jugendliche engagieren sich daher in Estlands Freiwilligenarmee.

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Joosua, Karlos, Daniel und Sten rennen durch einen Nationalpark in Läänemaa im Westen Estlands. Die Jugendlichen müssen sich beeilen. Denn gerade haben sie die Anweisungen für die heutige Übung bekommen: Etwa 100 Meter nordöstlich, so das Szenario, ist jemand auf eine Mine getreten. Wenn sie ihn nicht schnell erreichen, droht er zu verbluten.

Die Aufgabe: Einen Verletzten so schnell wie möglich finden. 100 m in nordöstlicher Richtung soll er auf eine Mine getreten sein. (Foto: SWR, Michael Richmann)
Die Aufgabe: Einen Verletzten so schnell wie möglich finden. 100 m in nordöstlicher Richtung soll er auf eine Mine getreten sein.

Nach wenigen Schritten erreichen die vier Jugendlichen einen Mann in olivgrüner Uniform. An seinem Bein hängt ein Gummi-Fuß mit sehr viel Kunst-Blut. Er gehört zur estnischen Freiwilligen-Armee, dem Kaitseliit. Es dauert nicht lange, bis die Blutung gestillt ist. Allerdings haben die vier Jugendlichen bei ihrem Sprint die 25 Tretminen-Attrappen übersehen, die zwischen ihrem Start und ihrem Ziel im Gras lagen. "Handwerklich war das ziemlich einfach“, sagt Joosua und meint damit die Erstversorgung des fiktiven Minenopfers, "aber wir hatten zu Beginn etwas Panik. Wir sollten also besser planen und nicht einfach loslegen."

Geschafft! Die Noored Kotkad haben den "Verletzten" gefunden. Joosua versorgt bei einer Übung ein "Minenopfer"; die Kameraden beobachten seine Arbeit. (Foto: SWR, Michael Richmann)
Geschafft! Die Noored Kotkad haben den "Verletzten" gefunden. Joosua versorgt bei einer Übung ein "Minenopfer"; die Kameraden beobachten seine Arbeit.

Estland bereitet seine Jugend auf ein Kriegsszenario vor

Joosua, Karlos, Daniel und Sten sind Noored Kotkad – "Junge Adler". Die Noored Kotkad sind Teil der estnischen Freiwilligen-Armee, sie sind deren Jugend-Organisation. Die Zielgruppe: Kinder und Jugendliche von 7 bis 18 Jahren.

Laut Martin Reisner vom estnischen Verteidigungsministerium spielen die Noored Kotkad eine wichtige Rolle in der estnischen Gesellschaft. Es sei nicht nur die erste Organisation, die Jugendliche in Kontakt mit dem Staat bringt, die Kinder lernen auch frühzeitig, dass sie sich für ihr Land engagieren können. "Wenn Du in einem Land mit 1,3 Millionen Einwohnen lebst, mit einem Nachbarn im Osten, der wiederholt seinen Willen und seine Bereitschaft gezeigt hat, seinen kleineren Nachbarn aggressiv zu begegnen, brauchen wir eine formidable Verteidigung“, sagt Reisner. "Und darum ist es wichtig, dass jeder einzelne willens und in der Lage ist, das Land zu verteidigen.“

Estland verzeichnet eine große Verteidigungsbereitschaft

Aus diesem Grund finanziert die estnische Regierung den Kaitseliit und damit indirekt auch die beiden Jugend-Organisationen – denn neben den Noored Kotkad für Jungs gibt es auch die Kodutütred – "Heimattöchter" – für Mädchen.

Aus Sicht des Verteidigungsministeriums lohnt sich der Aufwand: Laut regelmäßigen Umfragen sind etwa zwei Drittel der estnischen Bevölkerung dazu bereit, ihr Land notfalls mit der Waffe zu verteidigen. Im Vergleich: Eine repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov kam im Februar 2023 zu dem Ergebnis, dass nur elf Prozent der Deutschen bereit wären, die Bundesrepublik mit der Waffe zu verteidigen – fünf Prozent freiwillig, sechs Prozent gehen davon aus, dass sie ohnehin eingezogen würden.

Für viele Jugendliche steht der Spaß über dem Patriotismus

Für Joosua und seine Jungs ist der Grund, sich auf die Noored Kotkad einzulassen, hingegen sehr viel banaler: "Ich hatte einfach nichts zu tun in meiner Freizeit und am Wochenende. Ich hatte bis dahin einfach meine Zeit verplempert und dachte, das könnte Spaß machen.“ Er sieht sich eher als eine Art Pfadfinder.

Sie treffen sich einmal im Monat in der 471-Einwohner-Gemeinde Ardu, südöstlich der Hauptstadt Tallin, und trainieren Kartenlesen, Triangulieren, Erste Hilfe, das Morse-Alphabet oder den Umgang mit Walkie-Talkies. Bei einigen Gruppen stehen auch Schießübungen mit Luftgewehren oder Paintball-Kugeln an. In regelmäßigen Wettbewerben kommen die Gruppen aus allen Teilen des Landes zusammen und testen ihre Skills.

Chillen nach getaner Arbeit: Für die Jugendlichen der Noored Kotkad geht es nicht nur um den patriotischen Gedanken, die Heimat verteidigen zu wollen. Sondern sie finden in der Gemeinschaft Spaß unter Gleichaltrigen und eine Möglichkeit, ihre Freizeit mit interessanten Aktivitäten zu gestalten.  (Foto: SWR, Michael Richmann)
Chillen nach getaner Arbeit: Für die Jugendlichen der Noored Kotkad geht es nicht nur um den patriotischen Gedanken, die Heimat verteidigen zu wollen. Sondern sie finden in der Gemeinschaft Spaß unter Gleichaltrigen und eine Möglichkeit, ihre Freizeit mit interessanten Aktivitäten zu gestalten.

Noored Kotkad ist keine militärische Organisation

Die Noored Kotkad und die Kodutütred sind jedoch keine militärischen Organisationen. Denn im Gegensatz zur Dachorganisation, dem Kaitseliit, werden die Jugendverbände nicht zum Teil der offiziellen Befehlskette – auch im Kriegsfall nicht. Schließlich hat die Republik Estland die UN-Kinderrechtskonvention inklusive des 1. Zusatzprotokolls unterschrieben und ratifiziert, das die Einberufung von Kindern verbietet. Und das Verteidigungsministerium betont, dass dieses Wissen auch auf der Flucht sehr nützlich sei.

Wie beliebt die Noored Kotkad und die Kodutütred sind, ist schwer zu sagen. Die einzelnen Verbände sind unterschiedlich straff organisiert. Und nicht jeder, der dabei ist, ist formal auch Mitglied. Das Verteidigungsministerium schätzt, dass etwa zehn Prozent der estnischen Jugend dabei sind.

Großer Zulauf seit der Krim-Annexion 2014

Seit der Krim-Annexion 2014 hätten der Kaitseliit und die beiden Jugendorganisationen an Bedeutung und Popularität gewonnen, sagt Merje Reismaa, die eine Kodutütred-Gruppe auf der Insel Hiiumaa betreut. Die Kinder bekämen seitdem mehr und bessere Ausrüstung gestellt, sagt die 24-Jährige. Der russische Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 scheint die beiden Organisationen jedoch eher vor Probleme gestellt zu haben: "Die Finanzierung ist schwieriger geworden, seitdem der Krieg begonnen hat, weil alles sehr viel teurer geworden ist. Und speziell die Jugend-Organisationen haben nicht mehr Geld bekommen, weil eher in die Dachorganisation, den Kaitseliit investiert wird.“

Angesichts des Ukraine-Krieges will die estnische Regierung die Verteidigungsbereitschaft jedoch nicht nur den Freiwilligen überlassen. Darum ist Nationale Sicherheit seit Sommer 2023 auch Schulfach. Denn aus estnischer Sicht ist der Einmarsch  russischer Truppen ins Baltikum ein realistisches Szenario. Darauf soll die estnische Gesellschaft vorbereitet sein – auch die Kinder.

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