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Gewalt in der Geburtshilfe

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Vera Kern
Vera Kern (Foto: SWR, Vera Kern / privat)

Frauen erleben bei der Entbindung immer wieder Respektlosigkeit bis hin zu Gewalt. Der Tag der "Roses Revolution" erinnert jährlich am 25. November daran.

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Lange war es ein Tabu: Erst 2015 machte die Weltgesundheitsorganisation auf "Geringschätzung und Misshandlung bei der Geburt" aufmerksam. Auch die weltweite Bewegung "Roses Revolution" hat eine Debatte angestoßen. Jährlich berichten mehr und mehr Mütter von erlebter Gewalt und Respektlosigkeit bei der Geburt.

Bewegung "Roses Revolution" bricht ein Tabu

Rund um den Aktionstag am 25. November, der auch der Internationale Tag gegen Gewalt an Frauen ist, teilen die betroffenen Rosenmütter auf Facebook und unter dem Hashtag #rosrev ihre belastenden Geburtserfahrungen der Öffentlichkeit mit.

Symbolisch legen sie Rosen und Briefe am Kreißsaal nieder. Da ist von einem Zuviel an Interventionen zu lesen und von einem Zuwenig an Betreuung.

Mütter erleben psychische, körperliche und strukturelle Gewalt

Formen von Gewalt bei der Geburt, von denen Frauen berichten:

  • Interventionen ohne Einwilligung wie Wehentropf, Dammschnitt, Kaiserschnitt
  • Medikamente verabreicht bekommen ohne Aufklärung oder Zustimmung
  • schmerzhafte vaginale Untersuchungen, Kaiserschnitt ohne ausreichende Narkose, (falsch ausgeführtes) Kristeller-Manöver (Herausschieben des Kindes durch Druck auf den Bauch während einer Presswehe)
  • Vernachlässigung: allein gelassen werden, nicht essen oder trinken dürfen
  • psychischer Druck durch Anschreien, Drohen, Demütigen
  • Verletzung der Privatsphäre

Katharina Desery von der Elternorganisation Mother Hood kennt viele Geschichten von schwierigen Geburten. Häufig hätten die Frauen das Gefühl, dass über ihren Kopf hinweg entschieden werde: "Ich war da nur ein Stück Fleisch, was das Kind irgendwie auf die Welt bekommen sollte", hört Desery immer wieder von Müttern.

Es gibt diesen schrecklichen Satz von Ärzten und Hebammen: 'Ich habe 1000 Frauen entbunden.' – Eigentlich sollten Geburtshelfer nur im Notfall eingreifen"

Viele Frauen fühlten sich im Kreißsaal auch psychisch massiv unter Druck gesetzt mit Worten wie "Sie wollen doch nicht, dass Ihrem Kind etwas passiert", berichtet Katharina Desery von Mother Hood.

Der Verein setzt sich bundesweit in Öffentlichkeit und Politik für eine bessere Geburtshilfe ein und schickt eine Expertin als Sachverständige in den Bundestag oder an "Runde Tische" zum Thema Geburt in mehreren Landesministerien.

Mutter beruhigt ihr Kind (Foto: IMAGO, Imago/Fotograf XY -)
Eine schlechte Geburtserfahrung kann sich negativ auf die Mutter-Kind-Bindung auswirken und überschattet häufig das ganze Familienleben.

Europarat prangert Gewalt in der Geburtshilfe an

Auch der Europarat hat sich mit Gewalt in geburtshilflichen Einrichtungen beschäftigt. In einer Resolution im Oktober 2019 heißt es:

Gewalt-Häufigkeit ist unklar, aber es sind keine Einzelfälle

Julia Leinweber ist Professorin für Hebammenwissenschaften an der Charité Berlin und Mitbegründerin der Arbeitsgruppe "Respektvolle Geburtshilfe" der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaften. Sie hat im Juli 2020 gemeinsam mit anderen ein Positionspapier veröffentlicht, um das Bewusstsein für eine "traumasensible" Geburtshilfe zu schärfen.

Gewalt ist jede Handlung, die die Autonomie der Frau beeinträchtigt.

Wie viele Frauen in Deutschland Gewalt bei der Geburt erleben, ist unklar. Bislang gibt es keine repräsentativen Studien, aus denen klar hervorginge, wie häufig Mütter von Übergriffen im Kreißsaal oder in Geburtshäusern betroffen sind. Wissenschaftlerinnen wie Julia Leinweber gehen davon aus, dass es sich nicht um Einzelfälle handelt.

Leinweber sieht insgesamt eine große Forschungslücke im Bereich Geburtserleben. Die Wissenschaft hätte sich zu sehr auf körperliche Outcomes wie Blutverlust unter der Geburt oder die Gesundheit des Kindes konzentriert. Zum subjektiven Geburtserleben der Frau fehlten bislang aussagekräftige Erhebungen.

Schwangere mit Schmerzen sitzt allein auf einem Krankenhausbett (Foto: IMAGO, imago stock&people)
Die internationale Forschung geht davon aus, dass etwa jede dritte Frau die Geburt als traumatisch erlebt. Gewalt, so die Annahme, kann ein zentraler Auslöser dafür sein.

Hebammenmangel und unsensible Kommunikation als Ursachen

Wieso kommt es überhaupt zu Grenzüberschreitungen? Ein Problem ist der Hebammenmangel: Dass eine Hebamme zwischen mehreren Kreißsälen hin- und herrennt und die Gebärenden daher nicht ausreichend betreuen kann, scheint symptomatisch für die deutsche Geburtshilfe. Der Deutsche Hebammenverband sieht daher vor allem strukturelle Gründe als Ursache für Gewalt. Viele Hebammen wollten aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen nicht mehr im Kreißsaal arbeiten, sagt Christel Scheichenbauer vom Hebammenverband Baden-Württemberg.

Nach Ansicht des Verbands braucht es vor allem mehr Personal und mehr Geld in der Geburtshilfe. Eine Geburt, die mal drei, mal 30 Stunden dauert, lasse sich nicht in eine Kostenpauschale pressen.

Frank Louwen, bis Oktober 2022 Vize-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, sieht jedoch nicht die Klinikstrukturen als Hauptursache für Gewalt in der Geburtshilfe.

Gewalt ist ein menschliches Problem und hat nichts mit Überbelastung zu tun.

Für Louwen beginnt Gewalt schon, wenn jemand in den Kreißsaal kommt und sich nicht vorstellt. Der Arzt, der am Uniklinikum Frankfurt am Main die Abteilung Geburtshilfe leitet, sieht hier die Führungsebene in der Pflicht. Die Leitung müsse einen konstruktiven Umgang mit Fehlern etablieren – und respektvolle Kommunikation selbst vorleben.

Baby nach der Geburt (Foto: Colourbox)
Ein guter Start ins Leben ist existenziell für Eltern und Kinder. Expert*innen fordern ein Umdenken in der Geburtskultur in Deutschland.

Gewalt verhindern durch Empathie und Eins-zu-Eins-Betreuung

Empathie sei ein weiterer Schlüssel zur Gewaltprävention, betont Hebammenwissenschaftlerin Julia Leinweber. Empathiefähigkeit lasse sich gut trainieren, wie Studien zeigen.

Leinweber sieht zudem in der Eins-zu-Eins-Betreuung einen zentralen Baustein, um Gewalt zu verhindern. Die Forschung weist schon länger darauf hin, dass Geburten besser verlaufen, wenn eine Hebamme eine Frau betreut: Es kommt zu weniger Interventionen, Kaiserschnitte sind seltener, die Mütter sind zufriedener.

Eine neue medizinische Leitlinie empfiehlt seit Januar 2021 erstmals eine Eins-zu-Eins-Betreuung und eine frauzentrierte Geburt. Aus Sicht der NGO Mother Hood sei dies ein wichtiger Schritt, um Gewalt zu verhindern. Die Corona-Pandemie hätte die Situation in der Geburtshilfe zwar vielerorts verschlechtert, aber das Bewusstsein für gewaltvolle Handlungen im Kreissaal nehme zu.

Gewalt gegen Gebärende ist ein Gewaltproblem gegen Frauen

Tina Jung, Marianne-Schminder-Gastprofessorin für Geschlechterforschung an der Universität Magdeburg, betrachtet Gewalt gegen Gebärende als Teil eines grundsätzlichen Gewaltproblems gegen Frauen. Das Problem sei nicht nur auf strukturelle Ursachen, den Hebammenmangel, ökonomische Zwänge oder unsensible Kommunikation zurückzuführen.

Gewalt gegen Gebärende ist eine Menschenrechtsverletzung.

Für ihr Forschungsprojekt hat Tina Jung rund 30 betroffene Mütter und auch Geburtshelfer ausführlich befragt. Die Wissenschaftlerin zieht aus den Erfahrungsberichten ähnliche Schlüsse, wie sie in der Resolution des Europarats zu finden sind: Wer das Gewaltproblem in der Geburtshilfe lösen will, muss für Geschlechterstereotype in der gesamten Gesellschaft sensibilisieren.

Viele Geburtshelfer hätten klischeehafte Erwartungen an die Frauen, wonach Gebärende zum Beispiel "gut ausgebildet, schlank und kommunikativ" sein sollen, dabei aber fügsam sein sollten und Maßnahmen am besten nicht widersprechen.

Eines ist klar: Schlechte Geburten bringen Langzeitfolgen mit sich, Mutter und Kind leiden psychisch, volkswirtschaftlich kostet Nachsorge mehr als Prävention, wie eine Studie aus England belegt.

Gewalt in der Geburtshilfe habe damit zu tun, wie die Gesellschaft auf Geburten blickt, fasst es Katharina Desery von Mother Hood zusammen. Am Ende geht es auch um die Frage, was der Gesellschaft ein guter Start ins Leben wert ist.

"Weinen hilft dir jetzt auch nicht!“ Gewalt in der Geburtshilfe

Die junge Frau freut sich auf die Geburt. Alles läuft gut, bis ihr die Hebamme ohne Vorwarnung ein starkes Beruhigungsmittel spritzt. Gegen das, was folgt, kann sie sich nicht wehren. Von Marie von Kuck

SWR2 Feature SWR2

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Wenn die Geburt zum Trauma wird Gewalt in deutschen Kreißsälen: Eine Betroffene aus RLP erzählt

Die Initiative Mother Hood e.V. schätzt, dass 20 bis 45 Prozent der werdenden Mütter Gewalt bei der Geburt erfahren. Welche Auswirkungen hat das auf Betroffene?

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Schwangere fordern besseren Schutz Demonstration in Mainz für gewaltfreie Geburtshilfe

Rund 150 Menschen haben auf dem Schillerplatz in Mainz an der Kundgebung einer Selbsthilfe-Organisation teilgenommen. Hintergrund sind traumatische Erlebnisse bei Geburten in Kreißsälen.

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Gynäkologie: aktuelle Beiträge

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Die Eizellspende und die Leihmutterschaft sind in Deutschland aktuell verboten. Dennoch wünschen sich viele kinderlose Paare eine Legalisierung. Die Verfahren bergen aber besonders für die Spenderinnen und Leihmütter körperliche und psychische Gefahren.

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Fehlgeburten sind noch immer ein Tabuthema, dabei erlebt sie fast jede dritte Frau. Was sind die Ursachen, wie kann man das als Frau und auch beteiligter Partner verarbeiten? Mehr zur Sendung: http://swr.li/tabuthema-fehlgeburt | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: wissen@swr2.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@SWR2Wissen

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Medikamente sind in der Schwangerschaft ein heikles Thema. Sie können dem Kind schaden. Doch viele Frauen brauchen Medikamente, etwa bei Depression oder Migräne. Es gibt Mittel, die für Schwangere geeignet sind. Doch die werden aus Vorsicht oft nicht verordnet.

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Für die meisten Frauen ist Übelkeit zumindest zu Beginn der Schwangerschaft eine zwar lästige, aber harmlose Begleiterscheinung, die nach den ersten Wochen wieder verschwindet. Ein kleiner Prozentsatz der Frauen leidet aber unter einer schwereren Form der Schwangerschaftsübelkeit. Jetzt weiß man mehr über die Ursachen.

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Die UNESCO hat das Hebammenwesen in die Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Eine Anerkennung für den wichtigen Beruf. Doch in Deutschland ist die Lage vieler Hebammen schwierig, etwa weil Versicherungen sehr teuer sind.
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Fakt ab! Eine Woche Wissenschaft Das mysteriöse Ding aus der Tiefsee – wir decken auf! | mit Luisa Pfeiffenschneider von Behind Science

Dieses Mal mit Julia Nestlen und ihrem Gast Luisa Pfeiffenschneider vom Podcast „Behind Science“.

Ihre Themen sind:
- Früher konnten Frauen nur von Ärzten oder Apothekern ihre Schwangerschaft feststellen lassen. Eine Produktdesignerin erfand dann den Test für zuhause – Luisas Lieblingsstory! (03:43)
- Julia hat herausgefunden, warum die deutschen Fußballherren gerade so abgelost haben. Spoiler: Es hat nichts mit ihren sportlichen Fähigkeiten zu tun! (11:09)
- Es war einmal eine Frau, die blutbespritzte Puppenstuben baute ... (18:49)
- In der Tiefsee wurde gerade ein goldenes Etwas gefunden – Julia hat eine Idee, was es sein könnte (26:39)

Weitere Infos und Studien gibt’s hier:
Der Podcast „Behind Science: https://behind-science.blogs.julephosting.de/
Big number, big body: Jersey numbers alter body size perception: https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0287474
Bilderstrecke der Dioramen von Frances Glessner Lee: https://www.spiegel.de/geschichte/frances-glessner-lee-revolutionierte-mit-puppenhaeusern-die-forensik-a-953263.html#fotostrecke-52304367-0001-0002-0000-000000111038
What Is This Mysterious Golden Orb Scientists Found on the Ocean Floor?: https://www.smithsonianmag.com/smart-news/what-is-this-mysterious-golden-orb-scientists-found-on-the-ocean-floor-180982872/
Behind Science live: https://www.die-wohngemeinschaft.net/

Unser Podcast-Tipp der Woche: "Synapsen" von NDR Info
https://1.ard.de/Synapsen

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Redaktion: Charlotte Grieser und Chris Eckardt
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