Lili Boulanger wird in eine Musikerfamilie geboren. Ihr großes Ziel: der Prix de Rome, einer der renommiertesten Musikpreise seiner Zeit. Schon vorher schlug ihr Werk „Les Sirènes“ hohe Wellen.
Im Schatten der großen Schwester Nadia?
Hinter prachtvoller Front zu den verwinkelten Straßen des Pariser Viertels Montmartre, umgeben von Musik und Kunst, beginnt die Lebensreise von Marie-Juliette Olga Boulanger, Rufname „Lili“.
Im intellektuell hochfrequentierten elterlichen Salon erwacht ihre Neugier für die Künste. Ihr Vater Ernest ist Dirigent, Komponist, Sänger und Professor am Konservatorium, ihre Mutter Raissa ist ebenfalls Sängerin. Und ihre sechs Jahre ältere Schwester Nadia gilt als musikalisches Wunder.
Schon im Alter von fünf Jahren singt Lili Lieder von Gabriel Fauré, der Meister selbst spielt dazu am Klavier. Sie parliert mit den Gästen nicht nur Französisch, sondern spricht auch Russisch, Deutsch und Italienisch – ein weiteres Genie in der Familie, das bald darauf als Geigenwunder der Öffentlichkeit präsentiert werden kann.
Der tragische Tod des Vaters bringt Lilis erste Komposition hervor
Im Jahr 1900, Lili ist gerade sieben Jahre alt, verstirbt völlig überraschend ihr Vater während eines Gesprächs mit der älteren Schwester. „La Lettre de mort“, der „Todesbrief“, wird die erste nachweisbare Komposition der Halbwaise, erhalten bleibt allerdings lediglich die Skizze einer Melodie.
Wie ihr verstorbener Vater und einige der illustren Gäste der heimischen Salons vor ihr, möchte nun auch Lili Boulanger den begehrten Kompositionspreis „Prix de Rome“ gewinnen und in die Fußstapfen des verlorenen Elternteils treten. Sie tritt damit in Konkurrenz zu ihrer Schwester.
Lili Boulanger orientiert sich am Vorbild Debussy
In Vorbereitung ihrer ersten Bewerbung – sie wird erst im zweiten Anlauf, kurz vor ihrem frühen Tod, sensationell gewinnen – schreibt Lili Boulanger wohl auch „Les Sirènes“ („Die Sirenen“) und orientiert sich dabei an einem der vergangenen Preisträger: Claude Debussy.
In „Sirènes“ aus seiner zwei Jahre früher veröffentlichten Orchestersuite „La Mer“ verwendet Debussy einen gemischten Chor, der mit dem Orchester interagiert, um die Klanglandschaft des Meeres und die lockenden Rufe der Sirenen darzustellen.
Claude Debussy: La Mer, L 109. 3 Sinfonische Skizzen für Orchester
Wie Debussy verwendet Lili Boulanger einen Chor, der teils vokalisierend eingesetzt wird. Selbst die harmonischen Progressionen folgen stellenweise dem Vorbild.
Die kleine Schwester triumphiert
Die Pariser Zeitung Le Monde Musical schreibt dazu am 30. März 1912:
Der vertonte Text entstammt einem wohl 1888 entstandenen Gedicht des Zeitgenossen Charles Jean Grandmougin. Die Meereskreaturen, deren unwiderstehlicher Gesang Seefahrer auf die Felsen lockt, rühmen sich mit betörenden Klängen ihrer tödlichen Schönheit.
Les Sirènes | Die Sirenen |
Nous sommes la beauté qui charme les plus forts, Les fleurs tremblantes de l'écume Et de la brume, Nos baisers fugitifs sont le rêve des morts ! Dans les profondeurs azurées Et sacrées Nous vivons loin du soleil d'or, Et les voiles de la nuit brune Même sans lune, Sont le signal de notre essor ! Parmi nos chevelures blondes L'eau miroite en larmes d'argent, Nos regards à l'éclat changeant Sont verts et bleus comme les ondes ! Avec un bruit pareil aux délicats frissons Des moissons Nous voltigeons sans avoir d'ailes; Nous cherchons de tendres vainqueurs, Nous sommes les sœurs immortelles Offertes aux désirs de vos terrestres cœurs ! | Wir sind die Schönheit, die die Stärksten betört, Die zitternden Blumen des Schaums Und des Nebels, Unsere flüchtigen Küsse sind der Traum der Toten! In den azurblauen Und heiligen Tiefen Leben wir fern der goldenen Sonne, Und die Schleier der dunklen Nacht Auch ohne Mond, Sind das Zeichen unseres Aufstiegs! Zwischen unseren blonden Haaren Schimmert das Wasser in silbernen Tränen, Unsere Blicke mit wechselndem Glanz Sind grün und blau wie die Wellen! Mit einem Klang ähnlich den zarten Schauern Der Erntezeit Wir schweben, ohne Flügel zu haben; Wir suchen zärtliche Sieger, Wir sind die unsterblichen Schwestern, Den Begierden eurer irdischen Herzen gewidmet! |
(Übersetzung: Jörg Lengersdorf) |
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Für ihr größtes Ziel muss sie mehrere Anläufe nehmen, auch wegen gesundheitlicher Rückschläge. Beim wichtigsten Wettbewerb der europäischen Kompositionszunft wird Lili Boulanger 1912 wegen Fieberschüben vor dem Finale aufgeben. Sie ist 18 und hat noch knapp 6 Jahre zu leben.