Musikalische Übereinstimmungen:
Der Ariadnefaden und die Malerei des Jean Legros
Jean Legros Malerei wird zu Unrecht als geometrisch bezeichnet, ermöglicht sie es uns doch, zu einem Register formeller Kategorien zu gelangen, die ein wichtiger Teil des modernen Musikschaffens – eines Musikschaffens, das weit fortgeschritten ist in der Handhabung der Klangwelten – mit der großen Tradition der abstrakten Malerei dieses Jahrhunderts gemein hat. In eben dieser Tradition steht das ästhetische Abenteuer Jean Legros : das Abenteuer des Suprematismus (Malevitsch), des Neo-Plastizismus (Mondrian) und der Art Concret der dreißiger, vierziger und sechziger Jahre.
Im Lauf unseres Jahrhunderts standen moderne Malerei und Avantgardemusik sehr häufig in einem schöpferischen Dialog. Beispiele dafür sind die Beziehungen zwischen Kandinsky und Schönberg, zwischen Malevitsch und Matjusin, Roslavec oder auch der Wiener Kunst des beginnenden Jahrhunderts. Die Vorstellung von einer Kunst, die frei ist von den Zwängen einer mimetischen Illustration, findet ihre Entsprechung häufig in einem Musikschaffen, das auf ähnlichen Prinzipien beruht: denen der offenen Form oder des als formale Determinante begriffenen Timbre (entsprechend der Textur in der Malerei). Die dodekaphonische Ouverture entspricht ihrerseits der (offenen) Fläche in der Malerei, während Strawinskys oder Bartoks rhythmische Überlagerungen an die kubistisch-futuristische Problematik der Simultaneität erinnern. Der große Wandel liegt jedoch in der Aufgabe mimetischer Grenzen. Schon in seinem Konzert (München, Leinbachhaus) bringt Kandinsky die expressionistische und proto-abstrakte Malerei einen großen Schritt hinsichtlich des mimetischen Dogmas voran. Seine Haltung ist in diesem Moment den ästhetischen Postulaten Arnold Schönbergs vergleichbar, eines Komponisten, der 1912 die Emanzipation von Kandinskys ästhetischen Konzepten entscheidend beeinflußte.
Noch interessanter ist die musikalische Anregung im Fall Malevitschs, bei dem ein Teil der suprematistischen Evolution der Jahre 1916 und 1918 auf der neuen Sichtweise der Bildwelten basiert, unterstützt vom Klangspektrum, das er im musikalischen Schaffen der Epoche ausmachte. Die Werke von Skrjabin, Matjusin und Roslavec stellten damals Malevitschs Bezugspunkte dar. Aufgrund der Schwierigkeit, die revolutionären formalen Konzepte in Worte zu fassen, bedient der Maler sich der Parabel musikalischer Bilder, die ihm als Katalysator auf dem Weg seiner neuen suprematistischen Ästhetik helfen. Malevitsch ist von seinen Entdeckungen so begeistert, daß er es 1918 sogar wagt, seine Voraussetzungen einer neuen Musiktheorie zu formulieren. Sein Vortrag vor der Neuen Moskauer Kunstakademie endet mit einem Skandal... Die Reflexion über die Musik kommt ihm im Lauf der zwanziger Jahre wieder unter die Feder, als er sich mit Zeitforschung beschäftigt. Parallel zu Adorno und Einstein erforscht Malevitsch das Wesen der (plastischen) Kunst im Spektrum der Ewigkeit, der Geschichte, aber auch des Absoluten. Noch einmal formuliert Malevitsch seine Betrachtungen über Roslavec ausgehend von einer Kritik der musikalischen Konzepte (denen des berühmten Musikwissenschaftlers Sabanjew). Jean Legros Werk ist eng verflochten mit der Ästhetik einer lebenden Form, einer offenen Form, die einer modernen Sicht der Klangspektrum eigen ist. Diese von den Zwängen nach statischen Regeln der Imitation befreite Sicht bringt den Maler unverzüglich dazu, die Farbe unter der Form einer für manche musikalische Werke seiner Zeit überaus charakteristischen pulsionellen Fläche zu ersinnen. So statisch sie auf den ersten Blick erscheinen mögen, gehen doch die Bezüge, die zahlreiche Werke Legros – nicht nur die aus seiner Serie der musikalischen Kreise – zur Musik aufweisen, über die in sich geschlossene Einheitsform hinaus. Der Maler wandte sich dem unerschöpflichen Klangspektrum zu und verglich es mit dem Farbfeld Notenzeichen. 1974 sah Jean Legros darin die Sympathie unbegrenzter vibratorischer, intervallischer und topographischer Möglichkeiten.
Die runde Form seiner musikalischen Kompositionen ist einzigartig in seinem Werk wie überhaupt im abstrakten Schaffen des 20. Jahrhunderts ?notenzeichen?. Sie versinnbildlicht von allein den Beispielcharakter, dem diese Bilder verhaftet sind. Der musikalische Bezug steht in diesem Fall nicht nur außer Frage, er wird auch voll akzeptiert.
Waren Jean Legros Besuche bei den Arbeitssitzungen des IRCAM der Katalysator seiner innovatorischen Sicht der Streifenmalerei? Befreit von den Zwängen der Einheitsform und in sich selbst geschlossen, bietet Legros auf den Weg der offenen, also räumlich unbegrenzten Sicht geworfene Malerei eine hervorragende Gelegenheit, sich dem Bereich des modernen Schaffens zu nähern, das sich als supra-individuell, pantheistisch und kosmisch versteht.
Zahlreiche Artikel, die der Künstler der Musik gewidmet hat, ermöglichen durch die Reflexion über das Klangspektrum einen leichteren Zugang zu den Geheimnissen seiner Malerei. Indem sie den Bereich der (statischen) Komposition und damit den des starren Tafelbilds auf kühne Weise hinter sich läßt, verschreibt sich diese plastische Sichtweise einer Universalität, in der sich ebenso die Vorstellungen Beethovens, vor allem aber die Schönbergs und Weberns bewegen.
Nachdem er sich von seinen künstlerischen Ketten, sowohl hinsichtlich der Form als auch des Materials, befreit hat, ist der Dialog zwischen der Malerei und der Musik in unserer Zeit nicht nur einfacher und fruchtbarer geworden, sondern auch immer bedeutsamer, bedingt durch die Schwierigkeit, einige neue Konzepte in Worte zu fassen. Häufig findet sich der Ariadnefaden aus dem Labyrinth des neuen Schaffens eher bei den Nachbarn als im eigenen Haus. Bei der frenetischen Suche nach den Parametern einer neuartigen Freiheit schöpferischen Ausdrucks ist die berühmte Übereinstimmung der Künste der Romantiker (Baudelaire) heute nützlicher denn je, denn wenn sie in der Vergangenheit lediglich dazu diente, Sympathiehaltungen zu illustrieren, erweist sie sich heute als Instrument für die Formulierung neuer formaler Kategorien, das heißt, sie öffnet einem neuartigen Ausdruck Tür und Tor, was zu allen Zeiten das höchste Ziel jedes künstlerischen Schaffens gewesen ist.
Andrei Nakov
(aus dem Französischen: Andrea Weber)