Eine Liebesgeschichte auf Papier? Zwischen 1858 und 1874 schrieben sich Pauline Viardot-García und Julius Rietz zeitweise täglich.
Der Briefwechsel zwischen der Komponistin und dem Nachfolger Felix Mendelssohn-Bartholdys am Pult des Leipziger Gewandhausorchesters ist jetzt zum 200. Geburtstag Pauline Viardots erschienen, herausgegeben von der Viardot-Expertin Beatrix Borchard. Eva Hofem hat ihn gelesen.
„Sängerin, Komponistin, Bearbeiterin, Pianistin, Gesangslehrerin, Organistin, Kulturvermittlerin, Veranstalterin, Herausgeberin, Volksliedsammlerin!" – so bezeichnet das Lexikon „Musik und Gender im Internet“ Pauline Viardot-García.
Liebesfreundschaft auf Papier
Herausgeberin Beatrix Borchard zeichnet gemeinsam mit ihrer Mitherausgeberin Miriam-Alexandra Wigbers ein umfangreiches und fundiertes Bild von Pauline Viardot-García. Grundlage dafür sind die zahlreichen Briefe zwischen Pauline und Julius Rietz, geschrieben in den Jahren 1858 bis 1874.
Beide lernten sich während eines Konzertes in Leipzig kennen – Pauline stand auf der Bühne, Julius Rietz war als Nachfolger seines Freundes Felix Mendelssohn-Bartholdy Kapellmeister des Gewandhausorchesters. Aus dieser Begegnung entstand eine leidenschaftliche Brieffreundschaft, mit teilweise mehreren Briefen täglich. „Eine Liebesfreundschaft auf Papier“, wie Beatrix Borchard es betitelt.
Tiefer Einblick in zwei Seelen
Die etwa 140 erhaltenen und abgedruckten Nachrichten lesen sich wie ein klassischer Briefroman: wild, romantisch, melancholisch, mal jammernd, mal himmelhochjauchzend. Sie geben einen tiefen Einblick in das Leben zweier bedeutender Künstler, vor allem aber in deren Seelenleben.
Nur selten ist tatsächlich Musik das Thema, auch wenn sich manchmal frisch Komponiertes hin und her geschickt wird. Oft sind es gesellschaftliche Themen der Zeit – fast schon humoristisch zu lesen: Julius‘ Abneigung gegen Paulines ehemaligen Klavierlehrer und Freund Franz Liszt.
Unschätzbarer Wert für das heutige Musikverständnis
Beschreibungen von künstlerischen Großereignissen wie der skandalträchtigen Pariser Uraufführung des „Tannhäusers“ sind zeitgenössische Quellen von unschätzbarem Wert für das heutige Musikverständnis.
Die meisten Briefe jedoch handeln von persönlichen Problemen mit der Familie, ungestillten Sehnsüchten oder dem gesellschaftlichen Bild als Künstler*in, wie in diesem Brief von der ständig reisenden Pauline an Julius deutlich wird.
Die insgesamt 663 Seiten sind von gut recherchierten Fußnoten und verständlichen Übersetzungen durchdrungen – denn Pauline Viardot-García bat ihren Briefpartner höflich darum, ihre Briefe in der Sprache ihres Herzens schreiben zu dürfen: auf französisch, nicht auf deutsch.
Oft wechselt Pauline mitten im Satz charmant zwischen beiden Sprachen – ein Sinnbild für ihre Weltgewandtheit. Darin ist Julius Rietz Pauline unterlegen, die unter anderem in Mexiko und den USA aufgewachsen ist.
Fusion aus Musikgeschichte, Wissenschaft und tiefen Emotionen
Es ist nicht zu übersehen, dass beide Künstlerpersönlichkeiten in der Zeit ihres größten Ruhmes, diesen brieflichen Austausch als Lebenselixier ansehen – denn trotz ihrer beruflichen Anerkennung steckten beide in einer tiefen Krise. Die Hintergrundinformationen dazu werden einleuchtend und allumfassend in den begleitenden Texten der Herausgeberinnen ausgearbeitet.
Der Band ist eine Fusion aus Musikgeschichte, Wissenschaft, tiefen Emotionen und freundschaftlichen Ratschlägen – wer anders als Pauline Viardot-García könnte daher das Schlusswort haben?
SWR2 Musikstunde Pauline Viardot zum 200. – Die letzte Zauberin (1–5)
Sängerin, Komponistin, Kulturvermittlerin, Salonniere - Pauline Viardot versammelte viele Talente in sich. „Nie habe ich bei einer Frau höchste Genialität und reines Menschentum in solcher Herrlichkeit ausgeprägt gefunden wie bei der Viardot“, schwärmte der Schriftsteller Theodor Storm.
Nicht nur ihn, auch viele andere verzauberte sie: Komponisten haben ihr Rollen auf den Leib geschneidert, Schriftsteller haben sie in ihren Romanen verewigt. Fast ein ganzes Jahrhundert umspannte Viardots vielseitiges, kreatives Leben, begleitet von fundamentalen Umwälzungen. Dieses Jahr feiert sie ihren 200. Geburtstag - und wir, wir gratulieren!