Sie wurden geraubt, gedrillt und vergessen: 1942 kommen in der sogenannten „Schule für Volksdeutsche“ in der badischen Kleinstadt Achern 57 kleine Mädchen aus Polen an. Sie wurden aus ihrer Heimat gewaltsam verschleppt, um sie hier „einzudeutschen“.
Rassenideologie der Nationalsozialisten
Die Nazis hatten den irrsinnigen Plan, die sogenannte „arische Rasse“ zu vermehren. Zu diesem Zweck verschleppten sie in den Gebieten, die sie während des Zweiten Weltkriegs besetzt hatten, Kinder.
Vor allem in Polen, Slowenien, Tschechien und Russland durchkämmte die SS systematisch Kinderheime und Waisenhäuser und suchte nach Kindern, die ihren rassenideologischen Vorstellungen entsprachen, also blond und blauäugig waren.
Wenn die NS-Beamten sie für „eindeutschungsfähig“ hielten, wurden die Kinder nach Deutschland transportiert. „Durch die Vermittlung in Pflege- bzw. Adoptivfamilien sollte dem deutschen Volk perspektivisch ein „wertvoller Bevölkerungszuwachs“ zukommen, erklärt die Historikerin Dorothee Neumaier. Seit einigen Jahren forscht sie zu den geraubten Kindern.

20.000 Kinder aus Polen verschleppt
Aktuelle Forschungen gehen davon aus, dass allein aus Polen ca. 20.000 Kinder verschleppt wurden. Die Gesamtanzahl der geraubten Kinder wird mit ca. 50.000 beziffert. Doch die Dunkelziffer ist sicher enorm, denn vielen Kindern wurde auch ihre Identität geraubt.
Das grausame Ziel der Nazis war es, diese Kinder zu brechen. Dazu gehörte auch, dass man ihnen einfach neue, deutsche Namen gab. Oft wurde den Kindern auch vorgelogen, dass ihre polnischen Verwandten alle gestorben seien.
„Die Opferzahlen lassen sich aufgrund der lückenhaften Aktenlage nur schwer beziffern, da zeitgenössische Dokumente fehlen bzw. diese bereits Sachverhalte verschleierten. Zudem wurden mit dem sich abzeichnenden Kriegsende zahlreiche Dokumente vernichtet“, so Neumaier.

Traumata durch Identitätsraub
Einige der Kinder wurden an deutsche Familien zur Adoption vermittelt. Vor allem an regimetreue Ehepaare, die selbst keine Kinder bekommen konnten. Diese zwangsadoptierten Kinder erfuhren oft erst viele Jahre später oder auch nie, dass sie eigentlich aus Polen stammten.
Weil die Nazis deren wahre Identität oft verschleierten und entsprechende Dokumente vernichteten, war es für sie nach Kriegsende schwer bis unmöglich zu erfahren, wer sie wirklich sind und woher sie stammten. Für die Betroffenen bedeutet das lebenslange psychische Qualen.
Die „Schule für Volksdeutsche“ im badischen Achern
Dass auch im badischen Achern Mädchen aus Polen „zwangsgermanisiert“ werden sollten, ist bislang kaum bekannt. Im Jahr 1942 kamen dort 57 polnischen Mädchen in der sogenannten „Schule für Volksdeutsche“ an. Für Jungen gab es eine entsprechende Schule im elsässischen Rouffach.
In der Schule waren auch rund 200 Mädchen aus Südtirol. Doch da sie bereits deutsch sprachen und ihre Eltern für die Zugehörigkeit zu Deutschland gestimmt hatten, wurden die Südtirolerinnen besser behandelt als die polnischen Mädchen.

Heute erinnert Museum an NS-Verbrechen
Die „Schule für Volksdeutsche“ war in der Illenau, am Rand von Achern, in einer ehemaligen Heil- und Pflegeanstalt untergebracht. Die Einrichtung war 1940 geschlossen worden, nachdem über 260 der damaligen Patient*innen Opfer des sogenannten „Euthanasie“-Programms der Nazis wurden und in den Tötungsanstalten Grafeneck und Hadamar ermordet worden waren.
Heute erinnert ein kleines Museum an die Opfer der NS-Verbrechen, die sowohl an den ehemaligen Patient*innen der Illenau als auch an den geraubten polnischen Mädchen begangen wurden.

Qualvoller Alltag
Die polnischen Mädchen „einzudeutschen“, wie es die Nazis damals nannten, hieß konkret vor allem, dass sie massiv gedrillt wurden. Die damaligen Kinder berichteten später in Interviews, dass sie ständig gedemütigt und brutal geschlagen wurden – besonders wenn sie es wagten, untereinander Polnisch zu sprechen.
Außerdem mussten sie oft Hunger und Kälte ertragen. Die Mädchen in Achern, die zwischen sieben und 13 Jahre alt waren, wurden in einem Haus mit vergitterten Fenstern eingeschlossen und durften das Gelände allein nicht verlassen.
Ein paar der Mädchen widersetzten sich. Sie wurden zurück auf polnisches Gebiet gebracht, in das sogenannte Polen-Jugendverwahrlager Litzmannstadt (heute Łódź), in dem KZ-ähnliche Zustände herrschten. Dort verliert sich ihre Spur.
Von den übrigen Mädchen aus Achern wurden einige nach einer Weile in Familien in der Umgebung gegeben. Vorzugsweise in regimetreue. Manche hatte es dort ganz gut, andere mussten ohne Lohn hart arbeiten.
Unendliches Leid der geraubten Kinder bis heute
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemühten sich internationale Hilfsorganisationen, die Kinder ausfindig zu machen und zu klären, woher sie überhaupt stammten.
Oft gestaltete sich die Suche schwierig, weil viele unter den neuen, falschen Namen in deutschen Familien lebten. Besonders diejenigen, die als Säuglinge geraubt und zwangsadoptiert worden waren, wussten oft nichts von ihrer ursprünglichen Identität.
Da, wo es möglich war, wurden die Kinder nach Kriegsende zurück nach Polen zu ihren Verwandten gebracht. Die Qualen waren für die Kinder dann aber nicht mit einem Schlag zu Ende. In späteren Interviews berichten viele, dass sie Zeit ihres Lebens Alpträume von ihren Verschleppungen hatten und unter Angstzuständen litten.

Nie wirklich aufgearbeitetes NS-Verbrechen
Bis heute sind die Verbrechen an den geraubten Kindern nicht systematisch aufgearbeitet worden und in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt.
„Ich bin ganz in der Nähe von Achern aufgewachsen und habe Geschichte studiert. Aber erst als ich angefangen habe, am Stadtarchiv Achern zu arbeiten – in dem Gebäudekomplex, wo damals die ‚Schule für Volksdeutsche‘ war – habe ich von den geraubten polnischen Mädchen erfahren und war schockiert“, erzählt Olivia Mannßhardt, Mitarbeiterin am Stadtarchiv Achern.
Von einer Untersuchung kam Halina B. nicht zurück
Für das SWR Kultur Instagram-Format „My Hidden History“ hat Mannßhardt sich dann noch einmal intensiv mit der tragischen Geschichte eines der polnischen Mädchen beschäftigt: Halina B.
Sie stammte aus der Nähe der polnischen Stadt Łódź, wo sie bei ihren Großeltern lebte. Das dortige Jugendamt wurde auf die blonde und blauäugige Halina aufmerksam und bestellte die damals Achtjährige zu „Untersuchungen“ ein. Von der zweiten „Untersuchung“ kam sie nicht mehr zurück.

Die deutschen Beamten hatten sie in ein Heim gebracht, wo sie auf ihre Verschleppung nach Deutschland vorbereitet werden sollte. Die Großmutter versuchte verzweifelt, ihre Enkelin herauszuholen – doch leider vergeblich.
Aus Halina machten sie Helene
Halina wurde mit 56 weiteren polnischen Mädchen nach Deutschland transportiert. Auch Halina hat man vorgelogen, ihre Großeltern seien gestorben. Damit nahm man ihr jede Hoffnung auf Hilfe oder Rückkehr. Um die „Zwangsgermanisierung“ weiter voranzutreiben, nahm man ihr auch ihren Namen: Aus Halina wurde Helene.
Nach einer Weile wurde Halina dann in eine Bauernfamilie aus der Umgebung gegeben, wo sie zwar auf dem Feld arbeiten musste, aber auch zur Schule gehen konnte. Nach Kriegsende wurde sie zurück nach Polen zu ihren Großeltern gebracht.

Halina war schwer traumatisiert. Zurück in Polen fühlte sie sich zuerst wieder fremd, denn inzwischen hatte sie die polnische Sprache verlernt.
Mühsam musste sie ihre Muttersprache wieder lernen, behielt aber lange einen deutschen Akzent, weswegen sie immer wieder gehänselt und angefeindet wurde. Auch Halina berichtete davon, dass sie immer wieder Albträume von ihrer Verschleppung und dem Leben in der Illenau hatte.
Verschleppte bis heute nicht als NS-Opfer anerkannt und entschädigt
Der Freiburger Verein „Geraubte Kinder – vergessene Opfer e.V.“ kümmert sich seit vielen Jahren intensiv um die Opfer und darum, dass sie nicht vergessen werden. Er hat eine Wanderausstellung erarbeitet, die seit 2014 durch ganz Deutschland tourt und an dieses grausame Kapitel NS-Geschichte erinnert.
Außerdem kämpft der Verein dafür, dass die Betroffenen Entschädigungszahlungen bekommen. Aber bis heute werden diese geraubten Kinder nicht als NS-Opfer anerkannt.
Erst vor zwei Jahren hat das Land Baden-Württemberg aufgrund einer Petition des Vereins ein Programm aufgelegt, um denen, die damals als Kinder auf das Gebiet von Baden-Württemberg verschleppt wurden, Einmalzahlungen in Höhe von 5.000 Euro zukommen lassen. Bis jetzt haben allerdings nur fünf der damaligen Kinder solche Zahlungen erhalten. Anträge können aber weiterhin eingereicht werden.
Das Leid, das den Opfern der „Zwangsgermanisierung“ widerfahren ist, lässt sich nicht wiedergutmachen, aber über diese symbolische Geste zumindest anerkennen.
Dr. Dorothee Neumaier ist Mitglied der Fachkommission des Staatsministerium Baden-Württemberg für das Programm „Geraubte Kinder im Südwesten“. Die Historikerin hofft auf mehr Sichtbarkeit: „Ich persönlich erhoffe mir deshalb, dass das Programm noch weitere antragsberechtigte Personen erreicht und individuelle Schicksale gewürdigt sowie öffentlich wahrgenommen werden.“