
SWR Aktuell: Fast 150 Jugendämter haben in einer WDR-Recherche Alarm geschlagen, dass der Kinderschutz wegen Personalnot nicht gewährleistet werden kann. Wie sieht es beim Jugendamt Ludwigshafen aus?
Lars Heene: Wir haben noch das Glück, unsere Stellen relativ schnell besetzen zu können. Das heißt, wir haben keine offenen Stellen. Das ist aber nur eine Seite der Medaille: Die Arbeitsbelastung ist in den vergangenen Jahren deutlich gestiegen. Das liegt zum einen an der Erweiterung der Aufgaben durch den Bund. Es liegt aber auch an der Zunahme der Fallzahlen und den Meldungen über Kindeswohlgefährdungen, denen wir nachgehen müssen. Dazu kommen die Hilfen zur Erziehung, die sich teils aus den Kindswohlgefährdungs-Meldungen ergeben. Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben schon viel zu tun.
SWR Aktuell: Warum steigen denn die Fallzahlen so stark und warum brauchen immer mehr Kinder und Jugendliche Hilfe?
Heene: Erstmal ist es ja Aufgabe der Eltern, sich um die Erziehung zu kümmern. Aber sie nehmen ihre Verantwortung heute anders wahr. Wir haben auch nicht mehr die Familienkonstellationen wie früher, mit Großfamilie und Großeltern als Entlastung im Hintergrund. Wir haben aus meiner Sicht oft Orientierungslosigkeit und Überforderung bei Eltern sowie psychische Probleme oder konkrete Erkrankungen.
SWR Aktuell: Aber Sie sehen auch strukturelle Schwächen des Systems, sagen Sie.
Heene: Ja. Wir haben das Problem der fehlenden Kita- Plätze sowie der Überlastung von Erzieherinnen und Erziehern. Wir haben die Situation in den Schulen und da geht es vor allem um Auffälligkeiten von Kindern im sozial-emotionalen Bereich. Wir haben ein schlechter werdendes medizinisches System in Deutschland. Schauen Sie sich die Kinderarzt-Situation in Ludwigshafen an oder die Wartelisten bei den niedergelassenen Kinder -und Jugendpsychiatern! Auch die stationäre Kinder- und Jugendpsychiatrie ist regelmäßig voll belegt.
Und all das fokussiert sich dann auf die Jugendhilfe - sozusagen als "Ausfallbürge". Wir versuchen dann alles, Familien und Kindern geeignete Angebote zu machen.
SWR Aktuell: Trotzdem sagen Sie, sie haben noch Glück und ausreichend Personal. Bei anderen Jugendämtern stapeln sich die Fall-Akten oder es gibt Wartelisten für Jugendhilfemaßnahmen.
Heene: Wir können den Kindesschutz noch sicherstellen, aber die Situation wird schwieriger. Wir müssen Kindern nach Inobhutnahmen Angebote machen, wenn sie nach einer Inobhutnahme nicht mehr nach Hause zurückkehren können. Dazu brauchen wir stationäre Kapazitäten wie Pflegefamilien oder einen Regelplatz in einer Wohngruppe. Hier sind wir auf freie Träger angewiesen, die diese Leistungen anbieten. Und dafür braucht es Fachkräfte wie Erzieherinnen, Sozialpädagoginnen, die diese Leistungen anbieten können. Aber: Hier merken wir sehr deutlich den Fachkräftemangel!
SWR Aktuell: Das heißt, die Jugendämter leiden unter dem Fachkräftemangel bei Jugendhilfeeinrichtungen. Was hat das für Auswirkungen?
Heene: Der Fachkräftemangel bei den freien Trägern der Jugendhilfe ist bundesweit spürbar. Er wird umso spürbarer, je spezieller das Angebot ist, das wir als Jugendamt brauchen. Wir nehmen ein Kind aus einer Familie in Obhut oder das Kind meldet sich von sich aus bei uns, dass es in Obhut genommen werden möchte. Dann brauchen wir freie Plätze. Aber hier sind die Angebote für Kinder und Jugendliche knapper geworden.
Wir haben auch Kinder, die in einer normalen Wohngruppe nicht gut betreut sind, die einen intensiveren Betreuungsschlüssel brauchen, die möglicherweise auch heiltherapeutische Angebote brauchen. Von diesen Angeboten gibt es relativ wenig. Und deshalb haben wir den Eindruck, dass bundesweit ein "Einrichtungs-Hopping" stattfindet.
Kinderschutzdienste am Limit Mehr Kinder in der Pfalz brauchen Hilfe wegen Gewalt
Mehr Fälle, zu wenig Personal: Die Stellen, die sich nach sexueller, körperlicher oder seelischer Gewalt um Kinder kümmern, arbeiten am Anschlag - sie brauchen mehr Geld.
SWR Aktuell: Was heißt das denn genau?
Heene: Das heißt, wir haben in Ludwigshafen zwar ein gut sortiertes Angebot an stationären Betreuungsplätzen, aber auch Jugendämter aus dem ganzen Bundesgebiet versuchen, darauf zuzugreifen. Im Umkehrschluss versuchen wir natürlich auch, außerhalb von Ludwigshafen Betreuungsplätze zu finden. Man liest ja immer wieder, dass Jugendämter bis zu 100 Betreuungseinrichtungen angefragt haben – das ist auch bei uns kein Einzelfall mehr!
SWR Aktuell: Was bedeutet das denn für die betroffenen Kinder und Jugendlichen, die womöglich dann fernab von ihren Familien und Freunden untergebracht werden?
Heene: Im Regelfall ist es so, dass Kinder "sozialräumlich" untergebracht werden. Das heißt, in Ludwigshafen und in der Umgebung. Es macht in der Regel wenig Sinn ein Kind in Schleswig-Holstein, Niedersachsen oder Bayern unterzubringen. Es kann aber auch sein, dass es ein geeignetes Angebot nur dort gibt. Dann müssen wir uns auf eine Warteliste setzen lassen oder solange weitersuchen, bis wir irgendwo einen Platz finden. Da geht’s dann nur noch darum, das Kindeswohl zu gewährleisten.
SWR Aktuell: Das bedeutet, Jugendämter konkurrieren um Betreuungsplätze bundesweit. Wie läuft es hier vor Ort?
Heene: Hier für die Konkurrenzsituation vor Ort bedeutet es ganz einfach, dass wir in sehr engen Kontakt mit unseren Partnern stehen müssen, die hier Leistungen anbieten. Das funktioniert auch. Wir sind in einem engen Austausch, aber letztendlich handeln die Träger auch als Unternehmen, müssen also ihre Wirtschaftlichkeit im Blick haben. Das heißt, sie schauen natürlich auch, dass sie freie Plätze möglichst morgen oder übermorgen besetzt bekommen. Das ist nachvollziehbar. Auch wenn es dadurch manchmal Schwierigkeiten bei der Platzsuche gibt.
SWR Aktuell: Sie sagen, es liegt vor allem am Fachkräftemangel, dass sich die Lage so zuspitzt. Woher kommt das?
Heene: Man muss sich vorstellen, dass es natürlich gerade im stationären Kontext nicht für alle attraktiv ist, im Schichtdienst arbeiten zu müssen. Dann braucht man das geeignete Personal, das sich darauf einlassen kann. Damit meine ich, dass es auch anspruchsvoll für die eigene psychosoziale Gesundheit ist, gerade wenn man in besonderen Gruppen wie Krisengruppen arbeitet, wo viele Stressfaktoren zusammenkommen. Also Kinder, die einen höheren Betreuungsbedarf haben oder Eltern mit hohem Konfliktpotenzial. Das sind Belastungsfaktoren, die nicht jede Fachkraft auf Dauer aushält.
SWR Aktuell: Wie verkraften das Ihre Mitarbeiter?
Heene: Heute ist der Fachkräftemarkt eng. Wenn Angebote für Kinder und Jugendliche nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen, wir aber ein Kind unterzubringen haben, dann führt das teilweise zur Verzweiflung bei den Mitarbeitern: "Wo finden wir denn noch einen Platz?" Und das ist aktuell für uns die Herausforderung. Diese Entwicklung wird in den kommenden Jahren weiter zunehmen, wenn man hier nicht gegensteuert. Als Jugendämter haben wir Angst davor, dass dies nicht passiert.
SWR Aktuell: Was fordern Sie von der Politik?
Heene: Die Politik hat mehrere Aufgaben. Die Politik muss sich Gedanken machen, wie wir mehr Fachkräfte quantitativ an den Markt bringen und ausbilden. Wir müssen aus meiner Sicht auch ausländische Studienabschlüsse viel schneller zulassen. Wir müssen über Quereinsteiger sprechen. Wir brauchen eine stärkere Beteiligung der Kommunen und ihrer Spitzenverbände an der Gesetzgebung in der Kinderjugendhilfe.
Wir brauchen aber auch die passenden Angebote - gerade im Bereich der geschlossenen Unterbringung, also für Kinder, die starke "Weglauf-Tendenzen" haben. Eine solche Möglichkeit fehlt hier in Rheinland-Pfalz, da sind andere Bundesländer besser aufgestellt.
SWR Aktuell: Machen Sie sich Sorgen?
Heene: Wenn man lange genug dabei ist, sieht man die Entwicklung auf sich zukommen. Und auch meine Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter machen sich Sorgen. Wir nehmen im Kindesschutz eine Garantenstellung wahr. Das heißt, wir müssen Lösungen anbieten, wenn Kinder gefährdet sind. Da können wir nicht sagen: "Tut uns leid, wir können nicht helfen", sondern man würde uns in dem Falle, wenn ein Kind körperlich zu Schaden kommt, zu Recht fragen: "Habt ihr auch alles richtig gemacht? Habt ihr wirklich alles versucht?"
Ansonsten könnten wir haften wegen Unterlassens. Von daher müssen wir uns natürlich immer um eine bestmögliche Hilfe bemühen. Für mich sind beim Kindesschutz Bund, Land und die Kommune als Verantwortungsgemeinschaft in der Pflicht, nicht nur das einzelne Jugendamt.
SWR Aktuell: Die WDR-Umfrage ergab, dass in manchen Jugendämtern sogar deren Mitarbeiter Kinder bei sich privat unterbringen. Das ist aber in Ludwigshafen noch nicht der Fall?
Heene: Wir mussten noch keine Kinder bei Kolleginnen und Kollegen unterbringen. Aber ich weiß von anderen Jugendämtern, dass das so schon stattgefunden hat. Insoweit ist es ein realistisches Szenario, mit dem wir uns auch auseinandergesetzt haben. Nichtsdestotrotz wollen wir das vermeiden, da dies nicht die Antwort auf die geschilderten Probleme sein kann. Ziel ist es Kindern geeignete Hilfen zur Verfügung zu stellen und keine Kinder in Familien zu lassen, wenn sie dort gefährdet sind. Ich bin überzeugt davon, dass wir bislang den Kinderschutz in Ludwigshafen gut sicherstellen konnten.