Letzte Chance für Assange – Berufungsverfahren gegen Auslieferung startet

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AUTOR/IN
Marie Gediehn

Wird Julian Assange an die USA ausgeliefert oder nicht- darum geht es ab heute in Großbritannien. 2010 hat der Australier Dokumente veröffentlicht, die Kriegsverbrechen der US-Armee im Irak und Afghanistan belegen. Die USA wollen den Gründer der Enthüllungsplattform Wikileaks vor Gericht stellen, unter anderem wegen Spionage. 2019 wurde er in Großbritannien verhaftet. Das Gericht in London prüft nun seinen Einspruch gegen die Auslieferung. Wie Amnesty International auf den Fall blickt, erklärt der stellvertretende Generalsekretär der Menschenrechtsorganisation, Christian Mihr, im Gespräch mit SWR-Aktuell-Moderatorin Marie Gediehn.

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SWR Aktuell: Nach sieben Jahren in der honduranischen Botschaft in London, nach jetzt fünf Jahren im Gefängnis. Was hören Sie, wie geht es Julian Assange tatsächlich?

Christian Mihr: Julian Assange geht es einerseits schlecht. Das kann es, glaube ich, auch gar nicht anders, unter diesen Bedingungen, den fürchterlichen Haftbedingungen dort in Großbritannien. Und gleichzeitig spürt er trotzdem auch die Solidarität und die Unterstützung, die er von vielen Menschen und Organisationen bekommt. Soweit man das sagen kann unter diesen fürchterlichen Bedingungen in dem Hochsicherheitsgefängnis in London, spürt er auch eine gewisse Stärkung, aber trotzdem auch natürlich mit Sorge schauend.

SWR Aktuell: Jetzt haben Sie die internationale Solidarität angesprochen. Dieser Fall und auch der Streit um Assange ziehen sich jetzt seit 2010 hin. Wie nehmen Sie das wahr? Wie hat sich der Umgang mit dem Fall, die Sicht darauf verändert?

Mihr: Ich habe das Gefühl, dass mittlerweile mehr Menschen begriffen haben, dass es hier um sehr grundsätzliche Fragen geht. Denn einerseits geht es natürlich auch zunächst einmal um die Menschenrechte von Julian Assange selbst während der Haft, und um seinen Gesundheitszustand. Aber der Fall wirft eben auch ganz grundsätzliche Fragen der Pressefreiheit der Bedeutung von Investigativjournalismus auf. Und das haben lange Zeit, glaube ich, viele Menschen nicht begriffen. Insofern freue ich mich, dass gerade auch heute in Deutschland auch in vielen Medien Berichterstattung gibt, die grundsätzliche Fragen voll versteht. Da hat sich etwas verändert.

SWR Aktuell: Können Sie es ein bisschen konkretisieren? Was hat sich da verändert im Investigativjournalismus?

Mihr: Lange hatte Julian Assange das Image, dass das möglicherweise fragwürdige Veröffentlichungen waren, viele Dokumente waren vermeintlich einfach unredigiert veröffentlicht worden, was der Vorwurf ist, der ihm ja gemacht wird. Möglicherweise gab es die nie bewiesenen oder vor Gericht verhandelten Vorwürfe der Vergewaltigung, und deswegen haben sich, glaube ich, viele schwergetan. Und man hat eigentlich nicht gesehen, dass Wikileaks eben Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen enthüllt hat, dass viele Medien genauso wie Wikileaks daran mitgewirkt haben, dass viele Medien genauso heute auch arbeiten, und dass eben diese Medien nicht vor Gericht stehen. So wie Julian Assange müssten eigentlich alle Medien vor Gericht stehen, die mit Wikileaks damals die Veröffentlichungen gemacht haben. Das machen sie aber nicht. Und das haben, glaube ich, viele Journalisten und Journalisten mittlerweile verstanden.

SWR Aktuell: Jetzt haben sie Journalistinnen und Journalisten erwähnt. Ist es tatsächlich etwas, was im Journalismus passiert ist? Ich würde es wagen, von einem Umdenken zu sprechen. Oder nehmen Sie das auch in der Zivilgesellschaft, in der Politik wahr?

Mihr: Ich sehe auch in der Zivilgesellschaft mehr Menschen, die sich leichter damit tun, Assange zu unterstützen. In der Politik, wenn ich ehrlich bin, kann ich mir deutlich mehr Unterstützung wünschen. Es ist begrüßenswert natürlich, dass mittlerweile die australische Regierung, - er ist ja australischer Staatsbürger - sich für seine Freilassung einsetzt. Aber wenn wir auf Deutschland schauen, gibt es einige Abgeordnete, die sich dafür einsetzen - und das ist toll. Aber dass sich seitens der Bundesregierung Annalena Baerbock als Außenministerin oder Bundeskanzler Olaf Scholz nach wie vor so zurückhaltend zeigen, das ist ehrlich gesagt nicht gut und zeigt, dass sie offenbar die Grundsätzlichkeit des Falls noch nicht verstanden haben.

SWR Aktuell: Das würde ich mal in Abrede stellen. Woran könnte es denn noch liegen, dass sie die Grundsätzlichkeit nicht verstanden haben oder dass sie diesen Konflikten möglicherweise nicht eingehen wollen?

Mihr: Na klar sind die USA ein Verbündeter, und deswegen ist man möglicherweise auch zurückhaltend mit Kritik, mit deutlichen und lauten Forderungen hinsichtlich der USA. Aber gerade bei grundsätzlichen Willen zeigt sich ja die Glaubwürdigkeit von bestimmten Forderungen - und gerade die Glaubwürdigkeit einer sogenannten wertegeleiteten Außenpolitik. Und man macht es sich dann am Ende letztlich leicht angreifbar. Und bei Annalena Baerbock, um mal dabei zu beginnen: Ja, als sie noch in der Opposition war, hat sie ja selber die Freilassung von Julian Assange gefordert. Und insofern: Möglicherweise hat sie es verstanden, ist aber in der Realpolitik angekommen. Aber die Glaubwürdigkeit von Außenpolitik ist ja gerade in Regierungsverantwortung umso wichtiger, dass man dort eben nicht Doppelstandards anlegt.

SWR Aktuell: Was bedeutet es für die Pressefreiheit, wenn jetzt in London entschieden wird: Julian Assange wird ausgeliefert?

Mihr: Das wäre fatal. Und eigentlich müssen alle Journalistinnen und Journalisten, die investigativ arbeiten, die selber mit Quellen arbeiten, die vertraulich sind, die selber zu Themen von nationaler Sicherheitspolitik, von Geheimdiensten arbeiten, damit rechnen, selber ja verfolgt zu werden - oder mindestens ihre Quellen. Und insofern ist das ein hochsymbolischer Fall für die Pressefreiheit. Eine Auslieferung wäre ein fataler Präzedenzfall für die Pressefreiheit.

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