Menschen mit Mund- und Nasenschutz steigen in einen Nahverkehr (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Sebastian Gollnow, Montage: SWR)

Keine Grenzwerte und viele Ausnahmen

Kommentar: "Corona-Infektionsschutzgesetz wird uns im Ernstfall kaum schützen"

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Ulrike Till

Wochenlang hat die Bundesregierung über das Infektionsschutzgesetz verhandelt - am Mittwoch wurden die Eckpunkte vorgestellt. SWR-Wissenschaftsredakteurin Ulrike Till ist alles andere als begeistert.

Man merkt dem Entwurf an, wie hart Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) und Justizminister Marco Buschmann (FDP) miteinander gerungen haben - jeder konnte etwas durchsetzen, aber gewonnen hat klar Marco Buschmann. Team Freiheit war mal wieder stärker als Team Vorsicht. Fast jede neue Regel hat so viele Ausnahmen, dass sie deutlich verwässert ist. Zum Beispiel der Schutz in Kliniken und Pflegeeinrichtungen: Da gilt ab Oktober bundesweit Masken- und Testpflicht für Besucherinnen und Besucher sowie für Personal. Klingt gut, aber wer frisch geimpft oder genesen ist, ist von der Testpflicht befreit.

"Frisch" heißt dabei: Impfung oder Infektion dürfen bis zu drei Monate zurückliegen. Obwohl doch längst klar ist, dass der Schutz vor Infektion bei Omikron sehr löchrig ist: Auch kurz nach einer Impfung oder einer durchgemachten Erkrankung kann man sich und andere wieder anstecken. Zu Recht hat die Deutsche Stiftung Patientenschutz diese Ausnahme scharf kritisiert. Man kann nur hoffen, dass viele Kliniken auf eigene Faust strengere Vorschriften durchsetzen.

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Föderaler Flickenteppich bei Maskenpflicht im Nahverkehr

Halbherzig sind auch die Regeln in öffentlichen Verkehrsmitteln: Im Fernverkehr soll weiter bundesweit die Maskenpflicht gelten - im Nahverkehr können die Länder entscheiden. In manchen Bundesländern wird man also maskenlos Bus oder U-Bahn fahren dürfen, in anderen nicht - da ist er wieder, der föderale Flickenteppich. Und welchen Status haben dann eigentlich Regionalbahnen? Das ist nur eine von vielen offenen Detailfragen.

Wachsweiche Formulierung zu Maskenpflicht in Schulen

Ähnlich inkonsequent sind die Regelungen für Schulen: Nie wieder Schulschließungen, das ist das oberste Ziel. Um das zu erreichen, dürfen die Länder Test- und Maskenpflicht in Schulen verhängen - aber nur, "wenn dies erforderlich ist, um weiter Präsenzunterricht durchführen zu können". An dieser wachsweichen Formulierung werden die Gerichte noch viel Freude haben. Wie viel Unterricht muss denn ausfallen, damit der Präsenzunterricht gefährdet ist? Und was, wenn die Lage in einer Stadt viel kritischer ist als in der nächsten? Und vor allem: Warum darf selbst bei schwersten Infektionswellen die Maske nur Schülerinnen und Schülern ab der 5. Klasse zugemutet werden? Auch in Grundschulen muss durchgehender Unterricht gesichert bleiben, mahnt der Deutsche Lehrerverband.

Überhaupt ist das Thema Maskenpflicht in diesem Entwurf ein einziges "ja, aber": Ja, die Länder dürfen auch in öffentlich zugänglichen Innenräumen eine Maskenpflicht verhängen - aber die darf nicht gelten für frisch Geimpfte, Genesene oder Getestete. Und zwar bei Freizeit- und Kulturveranstaltungen, beim Sport und in der Gastronomie. So viele Ausnahmen - für Menschen, die bekanntlich trotz aller Nachweise hoch infektiös sein können.

Keine Grenzwerte bei Inzidenz und Belegung der Krankenhäuser

Erst in der höchsten Eskalationsstufe, die der Gesetzesentwurf vorsieht, fallen die Ausnahmen weg. Dann sind auch Personenobergrenzen bei öffentlichen Veranstaltungen im Innenraum möglich. Wohlgemerkt: nur bei öffentlichen Ereignissen. Wer privat mit 500 Leuten Hochzeit feiern will, darf das weiter tun, auch wenn die Lage brenzlig ist. Brenzlig heißt laut geplantem Gesetz: Ein Landesparlament stellt eine konkrete Gefahr für die Funktionsfähigkeit des Gesundheitssystems oder der kritischen Infrastruktur fest. Das ist eine sehr hohe Hürde, und zeitraubend ist der Prozess noch dazu.

Irritierend sind dabei die sehr allgemeinen Formulierungen - konkrete Kriterien werden noch nicht mal angedeutet. Weder bei der Inzidenz noch bei Krankenhausbelegung oder freien Intensivbetten sind Grenzwerte in Sicht. Die sollen sich dann also die Länder selber basteln - damit stiehlt sich der Bund aus der Verantwortung. Das ist aus meiner Sicht das größte Ärgernis dieses Entwurfs: Der Bund rammt nur ein paar wacklige Pflöcke ein - den Zaun müssen dann die Länder errichten. Mit schlechter Ausrüstung und jeder auf eigene Faust. Dieser Zaun wird im Winter große Lücken haben - und uns im Ernstfall kaum schützen.

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