Alfred Schalkau mit den Eltern (Foto: SWR, Kregel, Katharina)

1945 wird der neunjährige Alfred von seinen Eltern getrennt

Als "Wolfskind" in Ostpreußen: 88-Jähriger aus Pfalzgrafenweiler berichtet

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Katharina Kregel
Katharina Kregel ist Reporterin für Hörfunk, Online und Fernsehen beim SWR im Studio Tübingen. (Foto: SWR, Jochen Krumpe)

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges mussten Tausende Kinder in Ostpreußen ohne ihre Eltern überleben. Einer von ihnen: Alfred Schalkau. Heute wohnt er nahe Freudenstadt.

Alfred Schalkau sitzt in seinem Wohnzimmer im kleinen Örtchen Pfalzgrafenweiler nahe Freudenstadt. Seit den 1990er-Jahren lebt er hier zusammen mit seiner Frau Tatjana. Die Wände sind geschmückt mit Erinnerungen: Urkunden, kleine Basteleien, Fotos. Wenn sich Alfred Schalkau die alten schwarz-weiß Bilder anschaut, braucht er inzwischen Brille und Lupe. Im Januar ist er 88 Jahre alt geworden.

Alfred Schalkau in seinem Wohnzimmer in Pfalzgrafenweiler. Als "Wolfkind" irrte er nach Kriegsende ohne Eltern durch Osteuropa. Geboren wurde er 1936 im damaligen Königsberg, Hauptstadt der preußischen Provinz Ostpreußen.  (Foto: SWR, Kregel, Katharina)
Alfred Schalkau in seinem Wohnzimmer in Pfalzgrafenweiler. Als "Wolfkind" irrte er nach Kriegsende ohne Eltern durch Osteuropa.

Nach Krankenhausaufenthalt: Alfred verliert seine Mutter

Geboren wurde Alfred Schalkau 1936 im damaligen Königsberg, Hauptstadt der preußischen Provinz Ostpreußen. Die Zeiten sind hart. Bruder und Vater sind als Soldaten an der Front, die Mutter erkrankt kurz vor Kriegsende an Typhus und muss ins Krankenhaus. Auch der kleine Alfred kommt ins Krankenhaus. Nach seiner Entlassung sucht er seine Mutter vergeblich, ihre alte Wohnung ist bereits von einer fremden Familie besetzt. Mit einem Freund sei er dann mit einem Zug Richtung Litauen gefahren, so erinnert sich Schalkau heute. Sie hätten sich zwischen den Wagons versteckt und seien bei einem Halt einfach vom Zug abgesprungen und losgerannt.

25.000 ostpreußische Wolfskinder

Litauen ist 1945 von der UdSSR besetzt. Es wird Russisch gesprochen. Deutsche sind nicht gern gesehen; auch keine deutschen Kinder. Doch immer mehr von ihnen kommen aus Ostpreußen nach Litauen. Tausende Mädchen und Jungen, die ihre Eltern verloren haben und sich jetzt alleine durchschlagen müssen. Schätzungen gehen davon aus, dass rund 25.000 ostpreußische Waisen nach Kriegsende durch Osteuropa irrten. Oft schlossen sich mehrere Kinder zusammen, sie aßen Reste und übernachteten draußen - immer in der Angst, entdeckt zu werden. "Wolfskinder" wurden sie deshalb später genannt.

"Wer Deutschen half, wurde nach Sibirien geschickt"

Alfred Schalkau hat Glück. Eine litauische Familie hat Mitleid mit ihm. Seine von Flöhen wimmelnde Kleidung verbrennen sie, den Neunjährigen stecken sie erstmal in den Badezuber. Seine Retter bringen sich damit selbst in Gefahr, denn: "Wer Deutschen half, wurde nach Sibirien geschickt", so der 88-Jährige aus Pfalzgrafenweiler.

Keine Zeit für Tränen

Die nächsten Jahre schlägt er sich als Tagelöhner durch. Er hütet Kühe und arbeitet auf dem Feld. Oft schläft er nachts im Wald. Die Angst entdeckt zu werden, ist zu groß. Auf die Frage, ob er in den ersten Jahren oft geweint hat, schüttelt Alfred Schalkau den Kopf. Nein, zum Weinen sei keine Zeit gewesen. Er habe jeden Tag zusehen müssen, wie er zurechtkomme.

Alfred Schalkau macht das Beste aus seiner Situation. Er ist nur zwei Jahre zur Schule gegangen. Lesen und Schreiben bereiten ihm Probleme. Doch er macht eine landwirtschaftliche Ausbildung, lernt Traktorfahren, geht später für ein paar Jahre zur Marine. Der 88-Jährige erzählt das nicht ganz ohne Stolz. Dass sich heute Menschen für seine Geschichte interessieren, überrascht ihn ebenso, wie es ihn freut.

Alfred Schalkau mit Postkarte (Foto: SWR, Kregel, Katharina)
Schwelgen in Erinnerungen: Ein Foto aus Marine-Zeiten in den 50er Jahren. Alfred Schalkau ist der junge Mann ganz rechts auf dem Bild.

Bei einer Fahrt mit der Straßenbahn lernt er die Weißrussin Tatjana kennen. Tatjana hat bereits einen sechsjährigen Sohn, den Alfred sofort als seinen Sohn annimmt. Sie heiraten und führen ein einfaches aber glückliches Leben. Er sei in Litauen niemals angefeindet worden, weil er Deutscher sei, erzählt Schalkau.

Kein Wiedersehen mit den Eltern

Später wird Alfred Schalkau erfahren, dass seine Eltern den Krieg überlebt haben. Seine Mutter lebt noch einige Jahre in Chemnitz, sein Vater in Hamburg. Zu einem Wiedersehen wird es aber nicht mehr kommen. Alfred Schalkaus Gesichtszüge verraten wenig darüber, ob ihn diese vertane Chance schmerzt. Es scheint, als habe er als Kind schnell lernen müssen, mit Enttäuschungen umzugehen.

In den 1990er Jahren findet Alfred Schalkau über das Deutsche Rote Kreuz Verwandschaft in Süddeutschland. Die Sehnsucht nach Familie und dem vermeintlichen Heimatland ist groß. Obwohl Tatjana skeptisch ist, ziehen beide nach Pfalzgrafenweiler in den Nordschwarzwald. Da ist das Paar schon Mitte 50. Ihr Deutsch ist gebrochen, Amtsgänge sind eine Herausforderung und die Verbindung zur wiedergefundenen Familie ist nicht so eng, wie erhofft.

Alfred Schalkau (88) und seine Ehefrau Tatjana (84). Sie sind seit 57 Jahren verheiratet. (Foto: SWR, Kregel, Katharina)
Alfred Schalkau (88) und seine Ehefrau Tatjana (84). Sie sind seit 57 Jahren verheiratet.

Neue Heimat Deutschland?

Fast 30 Jahre leben Alfred Schalkau und seine Tatjana nun schon in Pfalzgrafenweiler. Runde Geburtstage haben sie hier gefeiert und ihre goldene Hochzeit. Tatjanas Sohn aus erster Ehe ist ihr einziges Kind geblieben, er lebt im heutigen Kaliningrad und ist bereits selbst Großvater. Sie sehen sich einmal im Jahr. Die Fahrt ist teuer und lang. Jedes Wiedersehen ist ein Höhepunkt für Tatjana und Alfred.

Ob sie es bereut haben, nach Deutschland gekommen zu sein? Tatjana und Alfred Schalkau schweigen eine Weile. "Sterben möchte ich hier nicht", sagt Tatjana dann leise. Alleine lassen will sie ihren Alfred aber auch nicht. Alfred Schalkaus hellblaue Augen werden ein bisschen feucht. "Vielleicht hätte ich auf Tatjana hören sollen. Wir hatten in Litauen ein gutes Leben." Ende April wollen sie zum Sohn nach Kaliningrad fahren. 18 Stunden mit dem Bus - und das mit Mitte 80. Die Suche nach Heimat und Familie - für Alfred Schalkau hat sie nie aufgehört.

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