Ein gelbes Schild mit der schwarzen Aufschrift "Klimamusterland" steht vor einem Hügel mit einem Windrad darauf.  (Foto: SWR, Luisa Funk)

Wo es hakt

Ein Jahr Grün-Schwarz: Ist Baden-Württemberg schon Klimamusterland?

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Marc-Julien Heinsch
SWR-Redakteur Marc-Julien Heinsch Autor Bild (Foto: David-Pierce Brill)
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Luisa Funk
Christian Susanka

Ein Jahr nach dem Neustart der grün-schwarzen Landesregierung mit der Ankündigung einer "Klimaoffensive" zeigt sich, dass manche Vorhaben schwerer umzusetzen sind als erwartet. 

Sie ist zu Hause am Stammsitz von Porsche und ist trotz ihrer Höchstgeschwindigkeit von nur 25 Stundenkilometern sehr beliebt. Die Fahrradrikscha "Zuffka" im Stuttgarter Stadtteil Zuffenhausen. Sie verkehrt kostenlos und klimaneutral von 9 bis 17 Uhr. 

Vor allem ältere Personen soll das Angebot ansprechen: Eine Fahrt zum Arzt, der Einkauf oder der Besuch bei Freunden - mit der Rikscha statt mit dem Auto.

Klimaschutz durch Bürgerverein - nicht durch Regierung

Die Mitfahrt kann telefonisch angemeldet werden, Spenden sind willkommen, rund 400 Euro kommen so im Monat zusammen berichtet einer der "Zuffka"-Organisatoren Matthias Bauer. 

"Es mangelt uns nicht an Finanzen, wir könnten ohne Probleme noch eine zweite Zuffka anschaffen". Es fehle alleine an Fahrern. Sie sind alle freiwillig auf dem Sattel, halbtagsweise und mit Dienstplan. 

Treibende Kraft für die Fahrradrikscha ist weder die Kommune noch das Land, sondern ein Bürgerverein. Der Erfolg der Fahrrad-Rikscha in einem Stadtteil der Autostadt Stuttgart zeigt auch die Grenzen der etablierten öffentlichen Verkehrsmittel auf: zu teuer, zu unzuverlässig und oftmals nicht barrierefrei. "Wer ab vom Schuss der U-Bahnlinien wohnt kann auch Pech haben, dass kein Bus fährt. Dann ist man als Senior vom Zentrum Zuffenhausen schon weit abgeschnitten", sagt Bauer.

 

Ein Mann fährt mit einer Rikscha über einen Feldweg, im Hintergrund ein Windrad auf einem Hügel.  (Foto: SWR, Luisa Funk)
Matthias Bauer fährt mit dem Rikscha-Fahrrad "Zuffka". Ein nachhaltiges Mobilitätsprojekt von einem Bürgerverein - nicht vom Land.

Die Erkenntnis des "Zuffka"-Projekts: Klimaschutz ist eben nicht auf Knopfdruck einschaltbar, sondern bringt Anstrengungen und Mühen mit sich. Im Kleinen wie im Großen.

Wo ist die angekündigte "Klimaoffensive"?

Rückblick Mai 2021: Eine Werkstatthalle der Uni Stuttgart im Ortsteil Vaihingen. Unweit des Luft- und Raumfahrtzentrums verkündet die bislang regierende und wiedergewählte grün-schwarze Regierungskoalition einen Neustart und skizziert einen politischen Aufbruch in eine neue Zeit: Baden-Württemberg will sich aufmachen, "Klimamusterland" zu werden.  

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Nach fünf Jahren des nebeneinander und stellenweise gegeneinander Regierens soll jetzt eine Fusion her, ein neues grün-schwarzes Kapitel: Klimaschutz, kombiniert mit Innovation und High Tech. Baden-Württemberg könne nicht alleine das Weltklima retten, aber zu einem kopierbaren Modell werden, um genau das zu schaffen. 

Der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider bestätigt nach einem Jahr, dass das politische Klima von Grün-Schwarz II deutlich besser ist: "Der Neustart der Koalition ist durchaus gelungen, man hat anspruchsvollere Ziele formuliert, vor allem waren es aber gemeinsame Ziele: Gleichklang Klimaschutz und andererseits Innovation und Technologien." Nicht alle in der CDU hätten diese Koalition gewollt, gleiches gelte für die Grünen. Deshalb seien die Koalitionspartner schon fast zum Erfolg verdammt.

Klimaaktivist: BW-Regierung nicht schnell genug

Der politische Wille für das Projekt Grün-Schwarz II ist das eine, die konkrete Umsetzung das andere und da sieht auch Kommunikationswissenschaftler Brettschneider noch mehr Handlungsbedarf. Auch Klimaschützer von Fridays for Future sagen, dass die baden-württembergische Landesregierung zwar auf dem richtigen Weg sei, aber nicht schnell und entschlossen genug voranschreite.  

"In der Klimakrise geht es nicht darum, besser zu sein als die Vorgängerregierung, sondern es geht darum, genug zu tun und das aktuell ist nicht genug", sagt Jaron Immer von Fridays for Future Baden-Württemberg. Der 16-jährige Reutlinger trifft sich in regelmäßigen Abständen mit Fachpolitikern der Landtagsfraktionen im Stuttgarter Landtag. Sein Zwischenfazit: "Man sieht, dass vieles steckenbleibt. Es reicht nicht zu sagen, wir wollen eine Energiewende und dann bei jeder einzelnen Maßnahme nein zu sagen." 

Eine Schulnote nach einem Jahr im Amt möchte der Klimaaktivist der Landesregierung nicht geben. Trotzdem fällt sein Urteil über ein Jahr Grün-Schwarz alles andere als positiv aus:

"Sie bezeichnen sich als 1,5-Grad-Regierung, wenn man aber die Maßnahmen anschaut, dann sind sie keine 1,5-Grad-Regierung."

Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) musste am Dienstag (3.5.) in der Regierungspressekonferenz bereits auf Nachfrage bei einem ehrgeizig formulierten Ziel aus dem Koalitionsvertrag zurückrudern: Die Ansiedlung und der Bau neuer Windkraftanlagen für Baden-Württemberg hätten sich als "dickes Brett" für das Land erwiesen, bei dem nur der Bund vorbohren könne und müsse. Die ursprünglich anvisierten 1.000 neuen Windräder für die neue Legislaturperiode werde man wohl nicht schaffen, wenn so lange Zeit nicht gebaut werden konnte. Aber man müsse da hinkommen, dass 100 im Jahr realisiert werden könnten, so Kretschmann.  

BW-Windkraftausbau weit hinter geweckten Erwartungen

Die Zahlen aus dem zuständigen Umwelt- und Energieministerium mit Ministerin Thekla Walker (Grüne) an der Spitze sprechen jedenfalls eine deutliche Sprache. Für das Jahr 2022 meldet das Ministerium bislang drei Inbetriebnahmen von Windkraftanlagen, zehn Genehmigungen und vier Anträge. 

Rückenwind erhofft sich die Landesregierung aus Berlin: Das Osterpaket der Bundesregierung und ein wiedereingeführter Südbonus für die Windkraft in Bundesländern, wo der Wind meist auf schweren zugänglichen Höhenzügen von Mittelgebirgen zu finden ist, sollen die Wende bringen. Auch der Ukraine-Krieg könnte dem Bedarf an erneuerbaren Energien zusätzlich Rückenwind verschaffen. 

Flächen seien dafür bereits ausgekundschaftet heißt es aus dem Umweltministerium: "Im Staatswald sollen die Voraussetzungen für den Bau von 500 neuen Windenergieanlagen geschaffen werden", so eine Pressesprecherin gegenüber dem SWR. Dazu seien 1.870 Hektar Flächen identifiziert worden, Platz für 90 Windräder. 40 weitere sollen folgen. 

Mobilität: 365-Euro-Ticket verschiebt sich

Fridays for Future hat an die Landesregierung Forderungen gestellt, wie sie die Mobilitätswende in ihrem Klimaschutzgesetz umsetzen können: "In der Mobilität müssen wir weg vom motorisierten Individualverkehr hin zum ÖPNV. Für uns ist klar, der ÖPNV muss attraktiver werden. Das heißt, eine verpflichtende Taktung, sodass er eine Alternative zum Auto darstellt, auch im ländlichen Raum." Für einen zukunftsfähigen ÖPNV brauche man auch Gelder. Die Landesregierung müsse die Gelder weg vom Straßenbau hin zum ÖPNV geben. 

Eine erste Maßnahme, um den ÖPNV attraktiver zu machen, ist ein geplantes 365-Euro-Ticket für junge Baden-Württembergerinnen und Baden-Württemberger. Damit sollen Studierende, Azubis und Schüler ein Jahr in ganz Baden-Württemberg für 365 Euro mit dem Regionalverkehr fahren können. Eigentlich war das Ticket für September geplant. Es soll jetzt doch erst im März 2023 kommen, obwohl es bereits Ende letzten Jahres beschlossen wurde. Grund für die Verschiebung ist die unklare Finanzierung: Die Kommunen sollen sich zu 30 Prozent an den Kosten beteiligen. Das stieß auf Unmut. 

Klima-Maßnahmen: Gemächliches Tempo bei der Umsetzung

Die Landesregierung hat noch zwei weitere Ideen für eine Verkehrswende. Ein Mobilitätspass soll bei der Finanzierung des ÖPNV helfen. Dabei leisten die Bürgerinnen und Bürger eine Abgabe für den ÖPNV. Im Gegenzug erhalten sie ein persönliches Guthaben, mit dem sie Tickets kaufen können. Ein Modellprojekt ist vor kurzem gestartet. Außerdem möchte die Landesregierung einen ÖPNV von fünf Uhr morgens bis 24 Uhr erreichen. Deshalb soll es einen 15-Minuten-Takt in Ballungsräumen und einen 30-Minuten-Takt im ländlichen Raum geben. In einem ersten Schritt wird dieser bis 2026 zu den Berufsverkehrszeiten eingerichtet - so zumindest die Zielsetzung. 

Bisher hat die Landesregierung viele Maßnahmen und Ziele entwickelt, ab jetzt soll es in den Dialog mit den Kommunen gehen. Bis die erste Maßnahme wirklich umgesetzt wird, dauert es also noch. Gerade das Beispiel 365-Euro-Ticket zeigt, dass eher ein gemächliches Tempo bei der Umsetzung herrscht. Um einerseits die eigenen Ziele einzuhalten, aber auch die Verkehrswende als Ganzes voranzubringen, ist ein deutlich schnelleres Tempo nötig. So sieht es auch Jaron Immer: "Was wir momentan erleben: In Baden-Württemberg machen wir kleine Schritte und kleine Maßnahmen. Das ist gut, aber es reicht nicht. Wir müssen jetzt genug tun."

Klimamusterland eher Vision als Wirklichkeit

Der Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider sagt, es sei noch zu früh, um Bilanz zu ziehen. Vieles, was die Landesregierung auf den Weg gebracht habe, könne erst nach einer gewissen Zeit auch wirken. Dennoch sagt er, dass die Landesregierung noch mehr tun müsse, um die Idee eines Klimamusterlands Baden-Württemberg voranzubringen. 

"Die Vision eines Klimamusterlands Baden-Württemberg selbst ist glaubhaft! Allerdings gehört zu einer Vision auch, dass sie von Menschen im Land mitgetragen wird. Diese Begeisterung ist nicht erkennbar."

Frank Brettschneider von der Universität Hohenheim (Foto: dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Marijan Murat)
Dem Kommunikationswissenschaftler Frank Brettschneider von der Uni Hohenheim fehlen die Leuchtturmprojekte für das Klimamusterland Baden-Württemberg.

Dass für Baden-Württemberg als Musterland für Klimaschutz, Innovation und Technik viel zu holen wäre, ist für Brettschneider klar. Nur müsse für dieses Ziel auch ein Plan sichtbar werden - beispielsweise durch Leuchtturmprojekte. An solchen herausragenden Beispielen fehle es in Baden-Württemberg. Bislang scheint das Klimamusterland eher Vision als Wirklichkeit zu sein.

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