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Tatwaffe Messer – Ursachen und Folgen eines Gewaltphänomens

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Michael Hänel
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Justina Bretzel
Candy Sauer

Angriffe mit Messern geschehen täglich. Die Kriminologie sieht eine zunehmende Bewaffnung mit Messern, vor allem bei jungen Männern. Umso wichtiger ist Prävention. Denn Gewaltforscher wissen: Wer ein Messer mit sich führt, wird es irgendwann einsetzen.

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Messerattacken in Deutschland: Aktuell fehlen bundesweite Zahlen

Am Nachmittag des 25. Januar 2023 geht ein Mann in einem Regionalzug mit einem Messer auf Mitreisende los. Zurück bleiben zwei Tote, fünf Schwerverletzte und psychisches Leid bei den Betroffenen.

Blumen und Kerzen am Bahnhof in Brokstedt, Schleswig-Holstein: Bei einer Messerattacke am 25. Januar 2023 in einem Regionalzug starben zwei Menschen, fünf wurden schwer verletzt. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, Daniel Bockwoldt)
Blumen und Kerzen am Bahnhof in Brokstedt, Schleswig-Holstein: Bei einer Messerattacke am 25. Januar 2023 in einem Regionalzug starben zwei Menschen, fünf wurden schwer verletzt.

Das Messer-Attentat in Brokstedt in Schleswig-Holstein ist kein Einzelfall. Schlagzeilen von Angriffen und Amoktaten, die mit Messern verübt wurden, häufen sich. Dennoch fehlt es aktuell an zuverlässigen Statistiken über entsprechende Gewaltdelikte.

Bereits für das Jahr 2020 hatte die Regierung unter Angela Merkel eine bundesweite Zählung der Fälle angekündigt. Bisher ist nichts geschehen. Jetzt sollen für das Jahr 2024 Daten ausgewertet werden.

"Wir haben halt kaum verlässliche Zahlen. Wir haben sie in Berlin, aber andere Bundesländer haben sie erst seit zwei, drei Jahren erfasst. Das heißt, wir wissen noch gar nicht: Hat denn das wirklich alles zugenommen?"

Messerangriffe: häufig zu Hause und gegen (Ex-)Partnerin gerichtet

Elena Rausch von der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden weiß, warum es so schwierig ist, ein belastbares Lagebild für die Entwicklung der Messerbewaffnung zu erstellen: Viele Messerattacken passieren im Privaten und tauchen deshalb nicht in der Statistik auf. Opfer sind dann oft Frauen, das Tatmotiv der männlichen Täter häufig Eifersucht und Besitzdenken.

Küchenutensil und Tatwaffe: Messer sind in jedem Haushalt vorhanden. Darum geschehen Angriffe mit Messern meist sehr spontan, erklärt der Gewaltforscher Prof. Dirk Baier aus Zürich. Die leichte Verfügbarkeit ist also eine der Ursachen für die Gewalt, die mit Messern als Waffe ausgeübt wird. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, Shotshop | Frank Röder)
Küchenutensil und Tatwaffe: Messer sind in jedem Haushalt vorhanden. Darum geschehen Messerangriffe meist sehr spontan, erklärt der Gewaltforscher Prof. Dirk Baier aus Zürich.

Motive hinter Messerbewaffnung: Wer greift zum Messer? Und warum?

Fehlende Zahlen sind eine Sache. Hinzu kommt, dass die Forschung noch kaum etwas über die Beweggründe von Messergewalt weiß.

Genau damit beschäftigt sich der Gewaltforscher Prof. Dirk Baier aus Zürich. Er weist auf einen anhaltenden Trend zur Messerbewaffnung bei deutschen und nicht-deutschen männlichen Jugendlichen hin. Das betrifft insbesondere die Altersgruppe der 14- bis 18-jährigen, erklärt er in der Sendung "SWR1 Leute" Anfang Februar 2023:

"Da bildet man so seine Männlichkeit, sein Mann-Sein, "Wer will man sein?", aus. Und manche jungen Menschen, die sportlich vielleicht nicht viel erreichen, die schulisch nicht viel erreichen, die suchen nach einer Identität. Und da ist ein Messer ein super Symbol, um ein kerniger Macho zu sein. Zu signalisieren: Auch ich bin gefährlich, ich bin wer."

Die Gefahr: Wenn Jugendliche ein Messer dabeihaben, ist es wahrscheinlich, dass sie es auch einsetzen. Darum ist es wichtig, Schulen auf Gewalttaten mit Messern vorzubereiten. Hier gäbe es laut Baier noch viel zu tun. Auch, weil der Großteil der Schulen mit der Situation schlicht überfordert sei.

Härteres Strafmaß als Lösung? – Stimmen aus dem Strafrecht setzen auf Prävention

Schon im Juni 2019 baten die Länder Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen die Justizministerinnen-Konferenz zu prüfen, ob es strengere Strafvorschriften für Messerdelikte brauche. Die Intention dahinter ist erstmal naheliegend: hohe Strafen als Abschreckung.

Diese Rechnung geht allerdings nicht so leicht auf. Der Strafverteidiger Jan Kürschner spricht aus eigener Erfahrung: Messerangriffe geschehen meist spontan. Kaum jemand wägt vorher ab, welche strafrechtlichen Konsequenzen er oder sie zu befürchten hat.

Paragraph 224 im Strafgesetzbuch regelt die gefährliche Körperverletzung. Die Forderung der Justizministerinnenkonferenz 2019, diesen zu verschärfen, blieb erfolglos. Aus gutem Grund, sagen viele Stimmen aus dem Strafrecht. Abschreckung durch hohe Strafen funktioniere kaum.  (Foto: IMAGO, Rene Traut)
Paragraph 224 im Strafgesetzbuch regelt die gefährliche Körperverletzung. Die Forderung der Justizministerinnenkonferenz 2019, diesen zu verschärfen, blieb erfolglos. Aus gutem Grund, sagen viele Stimmen aus dem Strafrecht. Abschreckung durch hohe Strafen funktioniere kaum.

Stattdessen plädiert auch Kürschner für Prävention: Um Taten verhindern, gilt es, die Zahl der Messer tragenden Personen in der Gesellschaft zu verringern.

Hinzu kommt, dass bei manchen Täterinnen und Tätern eine psychische Erkrankung vorliegt. Da Menschen, die an Psychosen leiden, die Folgen eigener Handlungen nur noch schwer einschätzen können, hätte eine Verschärfung des Strafmaßes auch in diesen Fällen keinen Effekt.

Menschen mit Psychosen: "Teufelskreis von Angst und Bewaffnung"

Warum es passieren kann, dass Menschen mit Psychosen manchmal zum Messer greifen, erforscht der Tübinger Kinder- und Jugendpsychiater Gottfried Maria Barth. Betroffene fühlen sich aufgrund ihrer wahnhaften Schizophrenie häufig beobachtet und bedroht. Aus ihrer Sicht "verteidigen" sie sich, wenn sie mit einer Waffe auf andere losgehen, so Barth.

Bevor dieser Teufelskreis eskaliert, sollte er möglichst durchbrochen werden. Hier setzt ein Pilotprojekt an, das im Sommer 2023 in Schleswig-Holstein beginnt. Es will sich um schwer psychisch Erkrankte kümmern, bevor sie sich bewaffnen und zur Gefahr für andere werden. Expertenanhörungen und die konkrete Ausgestaltung des Projektes werden noch 2023 erfolgen.

Medien suggerieren falsches Bild: psychisch Kranke nur äußerst selten gewalttätig

Wichtig ist allen Fachleuten zu betonen, dass nur sehr wenige psychisch Kranke zu Gewalttätern werden. Das werde durch Medienberichte verzerrt dargestellt. Langjährige Studien belegen jedoch, dass zwei Prozent der Normalbevölkerung zu Gewalttaten neigen und vier Prozent der psychisch Kranken.

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Vornamen-Studie: kein Zusammenhang zwischen Herkunft und Messergewalt

Ähnlich vorschnell ist der Vorwurf, dass insbesondere Menschen mit Migrationshintergrund zu Messergewalt neigen. Sonderauswertungen der saarländischen Polizei für den Zeitraum 2014 bis 2018 konnten das widerlegen. Die meisten Vornamen auf Täterseite klingen "deutsch": Michael, Daniel und Andreas. Nichtsdestotrotz greifen auch Menschen, die aus Syrien, dem EU-Ausland oder Afghanistan stammen, zum Messer.

Ziele für die Zukunft: bessere Datengrundlage, mehr Präventionsmaßnahmen

Zahlen allein reichen nicht aus, um Messerangriffe wie in Brokstedt zu verhindern: Viel wichtiger ist es, die Zusammenhänge hinter dem Gewaltphänomen zu verstehen: Wer sind die Täter? Was ihre Motive? Welche Folgen haben die Taten für die Opfer, die Angehörigen, das Umfeld, das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft? Dabei sollten insbesondere Präventionsprogramme ausgebaut werden, allein um die Anzahl der Messerträger zu verringern.

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Prof. Dr. Dirk Baier, Gewaltforscher, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften
Stefanie Loth, Gewerkschaft der Polizei
Dr. Ahmad Mansour, Psychologe und Autor

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