SWR2 Wissen: Geschichte der Liebe (3/3)

Romantische Liebe von den 68ern bis zum Online-Dating

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Johanna Juni
Johanna Juni (Foto: Chris Weiß)
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Anton Benz
Candy Sauer

Die 1968er stellen Kleinfamilie und Ehe gehörig infrage. Heute gibt es die Ehe für alle, Polyamorie und Co-Parenting. Wieso hat sich die romantische Liebe so drastisch verändert?

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Die Krise der klassischen Familie

Das klassische Bild der Familie bröckelt. Im Schnitt wird heute jede dritte Ehe geschieden. Zwischen 1950 und 2016 hat sich die Zahl der Einpersonenhaushalte fast verdoppelt. Das „Golden Age of Marriage“ ist längst vorüber. Trotzdem hat die Liebe in Paarbeziehungen nicht an Bedeutung verloren, sagt die Soziologin Mona Motakef.

Die zweite Welle der Frauenbewegung

Nach dem Zweiten Weltkrieg staute sich ein immer größer werdendes Ungerechtigkeitsempfinden an. Die Bildungschancen für Mädchen verbesserten sich und immer mehr Frauen gingen einem Beruf nach. Gleichzeitig veränderte sich jedoch nichts an den patriarchalen Strukturen der Gesamtgesellschaft. Mit der Studentenbewegung in den 1960er-Jahren brach die zweite Welle der Frauenbewegung an.

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Ein Tomatenwurf für Selbstbestimmung

Auf dem Parteitag des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS) setzte Sigrid Rüger ein Zeichen: Sie bewarf das einflussreiche SDS-Mitglied Hans-Jürgen Krahl mit einer Tomate. Anlass dafür war, dass Geschlechtergerechtigkeit im männerdominierten SDS nur eine untergeordnete Rolle spielte.

„Wir können mit der Lösung der gesellschaftlichen Unterdrückung der Frauen nicht auf Zeiten nach der Revolution warten, da eine nur politisch-ökonomische Revolution die Verdrängung des Privatlebens nicht aufhebt.“

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Selbstbestimmung und Gerechtigkeit waren die großen Themen der Frauenbewegung. Mit öffentlichkeitswirksamen Aktionen wurden auf Gewalt gegen Frauen aufmerksam gemacht. In einer Ausgabe des "Stern" bekannten 374 Frauen öffentlich: „Ich habe abgetrieben“ und forderten eine Reform des Paragrafen 218 zum Schwangerschaftsabbruch.

Erfolge der Frauenbewegung

Der Protest lohnte sich. 1976 wurde das erste Frauenhaus West-Deutschlands errichtet. 1977 wurde das neue Eherecht eingeführt. Damit wurde die Verpflichtung der Frau zur Haushaltsführung abgeschafft. Im selben Jahr wurde das Scheidungsrecht reformiert, indem das Schuldprinzip abgeschafft wurde. Bis dahin konnten Ehen nur dann geschieden werden, wenn dem Ehemann schuldhaftes Verhalten nachgewiesen werden konnte. Es wurde für Frauen also leichter, einem Beruf nachzugehen. Außerdem konnten sie sich einfacher scheiden lassen.

Die gewonnene Selbstbestimmung veränderte das klassische Bild der Familie: In den 1970er-Jahren beginnt die Selbstverständlichkeit der Ehe zu bröckeln.

Demonstrierende setzen sich auf dem Dyke*March 2020 in Berlin für die Sichtbarkeit von Lesben ein. Auch wenn sich das Bild der klassischen Familie mittlerweile verändert hat, werden homosexuelle Frauen immer noch oft an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt. "Dyke" ist ein ursprünglich abwertender Begriff für Lesben. Lesbische Aktivistinnen haben den Begriff aber umgedeutet und nutzen ihn heutzutage als positive Selbstbezeichnung.  (Foto: IMAGO, IMAGO / Christian Spicker)
Demonstrierende setzen sich auf dem Dyke*March 2020 in Berlin für die Sichtbarkeit von Lesben ein. Auch wenn sich das Bild der klassischen Familie mittlerweile verändert hat, werden homosexuelle Frauen immer noch oft an den Rand der öffentlichen Wahrnehmung gedrängt. "Dyke" ist ein ursprünglich abwertender Begriff für Lesben. Lesbische Aktivistinnen haben den Begriff aber umgedeutet und nutzen ihn heutzutage als positive Selbstbezeichnung.

Neue Beziehungsmodelle: Vielfalt statt Hochzeit

Der Zuwachs an Scheidungen bedeutet aber nicht, dass es einen Rückgang an romantischen Beziehungen gibt.

„Die romantische Liebe ist seit jeher ganz stark eine Orientierung für viele Menschen. Es gab einen Bedeutungsverlust der Ehe, aber nicht der romantischen Liebe; das ist wichtig.“

Das "goldene Zeitalter der Ehe" ist vorüber und macht Platz für neue Beziehungsmodelle. Ob Patchwork, Co-Parenting, offene Beziehung oder Polyamorie: Heute gibt es statt einer Hoheit der Hochzeit ein Nebeneinander von verschiedenen Lebensentwürfen. Denn romantische Gefühle sind heute genauso wichtig wie früher.

Johanna Juni über ihre Recherche zur "Geschichte der Liebe"

Generation Beziehungsunfähig – so wird meine Generation der Millenials immer wieder tituliert. Es wird gefragt, warum es so vielen von uns nicht gelingt, eine langfristige Bindung einzugehen und behauptet, dass wir nicht imstande seien, „richtig“ zu lieben. Ich habe das immer schon als verkürzt empfunden und mich stattdessen gefragt: Warum hielten Beziehungen früher ein Leben lang und verglühen heute oft nach dem ersten Windstoß? Und was bedeutet eigentlich Liebe? Immer wieder suchte ich nach Antworten: in meinem Studium der Geschichte und Soziologie, in meinen Artikeln – oder auch in meinem Podcast „In jeder Beziehung“. Und jetzt in der Reihe „Geschichte der Liebe“ bei SWR2 Wissen.

Recherche in Sachen Liebe in Antike & Co.

Für SWR2 Wissen gehe ich der Liebe in drei Akten auf den Grund: in der Antike, im Mittelalter inklusive der Romantik und in der heutigen Zeit. Selbst diese Reduzierung auf Schlaglichter entpuppte sich als kein leichtes Unterfangen. Doch je mehr Wissenschaftler*innen ich interviewte, desto besser konnte ich einen feinen Faden durch die Geschichte der Liebe spinnen.

Bei der Recherche stöberte ich durch historische wie philosophische Literatur und stieß auf ein Phänomen, das mich stutzig machte: Wie die männlichen alten Griechen Familie begriffen, ließ mich an einen Trend meiner Generation denken, das sogenannte Co-Parenting: Man tut sich freundschaftlich zusammen, um eine Familie zu gründen – leidenschaftliche Gefühle allerdings werden völlig legitim jenseits davon ausgelebt.

Ovid, Minnesang und die 1968er

Spannende O-Töne von Liebenden der 1968er Jahre und der Jetztzeit einzufangen gelang sehr schnell – mit Zeitzeug*innen aus Mittelalter und Antike sah es naturgemäß schlecht aus. Deshalb entschied ich mich für den Weg über Kunst und Kultur: Ein Musiktheaterstück über den römischen Dichter Ovid, eine Expertin für den mittelalterlichen Minnesang, ein Museum mit antiken Gegenständen: An vielen Orten traf ich Künstler*innen und Besucher*innen, um mit ihnen über Liebe zu sprechen.

Ganz egal, um welche Zeit es sich dabei handelte, zeigte sich etwas Wesentliches: Menschen erschaffen immer wieder Strukturen, um starke Gefühle in die soziale Ordnung zu integrieren. Bis heute versuchen Gesellschaften, den Wunsch nach Sicherheit und Zuhause mit dem Wunsch nach Freiheit und Leidenschaft zu vereinbaren.

Das Ideal der romantischen Liebe ist bekanntermaßen eine Erfindung der Moderne, die Liebesheirat gibt es erst seit 200 Jahren. Das Gefühl des Verliebtseins dagegen existiert schon viel länger. Dabei kommt es jedoch darauf an, wie Menschen im Lauf der Geschichte mit diesem komplexen Gefühl umgegangen sind.

Meine Interviewpartnerin, die Philosophin Nora Kreft, fasst es so zusammen: „Ein wichtiges Element von Liebe ist der drängende Wunsch, dem anderen nah zu sein. Deshalb hat Sokrates auch recht, dass Liebe etwas mit unserem Verlangen zu tun hat, die Welt zu verstehen. In beiden Fällen möchten wir verschmelzen. Aber nicht, indem wir die eigene Subjektivität aufgeben, sondern indem wir das, was an Subjektivität schmerzt – die Grenzen zwischen uns und anderen – niederreißen.“

SWR 2021

Reihe: Geschichte der Liebe

Geschichte der Liebe (1/3) Liebe bei den alten Griechen und Römern

In der Antike wurden Ehen meist arrangiert. Sex und Leidenschaft fanden zumindest Männer jenseits der Familie. Gab es also schon Romantik, wie wir sie am Valentinstag inszenieren? (SWR 2021/2022)

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Geschichte der Liebe (2/3) Höfische Liebe im Mittelalter und die Erfindung der Romantik

"Dû bist mîn, ich bin dîn" – Minnesänger beschworen große Gefühle. Dabei klafften Liebesideal und Realität im Mittelalter weit auseinander. Wie kam es zum Siegeszug der Romantik?

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Frauenemanzipation

Emanzipation Die "Neue Frau" der 1920er – Träume vom selbstbestimmten Leben

Bubikopf, Fransenkleid und Zigarettenspitze: In Serien wie "Babylon Berlin" lebt die selbstbewusste, mondäne Frau der 1920er-Jahre wieder auf.

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Film und Literatur

1.2.1968 Der Film „Das Wunder der Liebe“ kommt in die Kinos

Vor der Freigabe des Films musste Oswald Kolle sich den Diskussionen stellen: „Herr Kolle, Sie wollen wohl die Welt auf den Kopf stellen, jetzt soll sogar die Frau oben liegen!“

SWR2 Zeitwort SWR2

Sprache

Gesellschaft Geschlechtergerechte Sprache – Was bringt das Gendern?

Gendersternchen und Co: Kaum eine Debatte wird so emotional geführt wie die ums Gendern. Doch was sagt – ganz nüchtern – der Stand der Forschung dazu?

SWR2 Wissen SWR2

Reihe zur Sexualität

Gesellschaft Sex und das erste Mal – Pornos, Peinlichkeit und Masturbation (1/4)

Sex ist überall: im Internet, in Pornos. Doch die gezeigte Vielfalt macht es Jugendlichen nicht leichter, ihre sexuelle Identität zu entwickeln. Gute Aufklärung kann helfen. Und die nimmt zu.

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Gesellschaft Sex und Grenzen – Dominanz, Drogen und Voyeurismus (3/4)

Sex hat eine irrationale, unvernünftige Seite. Was wir mögen, hängt oft tief vergraben mit unserer Kindheit zusammen. Manche überschreiten deshalb Grenzen, suchen Rausch, Schmerz, Dominanz.

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Gesellschaft Guter Sex und Lustlosigkeit – Was ist normal? (4/4)

Schlechten Sex zu haben ist keine Kunst. Sex wird besser, wenn man nicht nur sich, sondern auch den Partner oder die Partnerin spürt. Guter Sex fängt mit Kommunikation an. Auch nonverbaler.

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Gesellschaft Sex und weibliche Lust – Vulva, Toys und Selbstbestimmung (2/4)

Erwachsene können noch eine Menge über Sex lernen. Dass Frauen immer selbstbewusster ihren Körper und ihre Lust entdecken, darüber reden, sich dabei filmen, ist eine Chance, auch für Paare.

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