Für die meisten Menschen gehört Sexualität selbstverständlich zum Leben, ähnlich wie Essen oder Schlafen. Wer sich selbst als asexuell bezeichnet, empfindet das anders: Sex? Unwichtige Nebensache bis eklig. Bestenfalls ein Kuriosum, das nur andere betrifft.
Ein bisschen wie Müdigkeit oder Hunger
Michelle sitzt mit einer selbstgedrehten Zigarette in der Hand im Gras auf dem Tempelhofer Feld in Berlin. Es ist Sommer, warm, viele Menschen sind heute draußen und genießen das gute Wetter. Michelle ist Mitte 20. Sie hat kurze Haare, trägt Piercings im Gesicht und eine Brille. Als "hübsch" soll man sie nicht bezeichnen. Es ärgert sie, dass über sie Sachen geschrieben werden wie "obwohl sie hübsch ist, interessiert sie sich nicht für Sex". Als ob es da einen Zusammenhang gäbe. Michelle hat einen festen Freund. Er ist nicht asexuell, und mit ihm schläft sie auch manchmal.

Ihr Freund kommt damit klar, dass sie zwar eine Liebesbeziehung haben, Michelle sich aber nicht besonders für Sex begeistert. Es geht ihnen um Intimität im weiteren Sinne. Körperlich erregt ist Michelle manchmal schon. Das habe aber nichts mit ihrem Freund oder einer anderen Person zu tun, sondern passiere einfach – wie sie eben auch manchmal müde ist oder Hunger hat.
Definition heißt für viele erst mal: Selbstdefinition
Asexuell ist jede und jeder, der sich selbst so empfindet. Der Begriff tauchte vor etwa 20 Jahren auf, als immer mehr Menschen begannen, sich im Internet auszutauschen, oft anonym in Foren und später auf Social Media-Kanälen.
Die Forschung beschäftigt sich erst vergleichsweise kurz mit dem Phänomen. Der führende Wissenschaftler im Bereich Asexualität ist der kanadische Psychologe Anthony Bogaert. Sein Buch "Understanding Asexuality" ist das Standardwerk auf dem Gebiet.
Das eigene Empfinden ist für ihn ausschlaggebend – genauso wie bei jeder anderen sexuellen Ausrichtung. Keine sexuelle Anziehung zu spüren ist an sich keine Krankheit oder Mangel, viele Menschen erleben das zumindest phasenweise in ihrem Leben.
Der Berliner Sexualwissenschaftler und –therapeut Christoph Joseph Ahlers hält Asexualität für ein normales Phänomen, auch wenn sie nicht immer so sichtbar war wie heute. Wissenschaftler haben Asexualität auch schon vor dem Boom des Internet wahrgenommen – nur nicht unter diesem Namen, erklärt Anthony Bogaert. Sogar der berühmte amerikanische Sexologe Alfred Kinsey hat sich mit asexuellen Menschen beschäftigt, er nannte sie "Kinsey X's", weil sie nicht in seine berühmte 7-Punkte-Skala passten.
Onlineforum AVEN
Heute treffen sich die "Aces", wie sie sich selbst auch nennen, im Onlineforum AVEN – das steht für Asexuality Visibility and Educational Network. Gegründet hat es der US-amerikanische Aktivist David Jay. AVEN hat inzwischen über 60.000 Mitglieder, die sich in Onlineforen in mehreren Sprachen austauschen. Das Spektrum reicht von den so genannten Aromantikern, die keine Paarbeziehung wollen und intimen Körperkontakt generell vermeiden, über diejenigen, die zwar masturbieren, aber keinen Sex mit anderen wollen, bis hin zu Menschen, die eine Beziehung haben und mit ihrem Partner schlafen, so wie Michelle.
Die Online-Community dient dem Austausch und bietet die Möglichkeit, etwas über sich selbst zu erfahren und gesagt zu bekommen: Du bist ok, wenn es für dich ok ist. Eine Plattform bietet sogar einen Selbsttest an – für diejenigen, die sich unsicher sind. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe und das Gefühl, verstanden und akzeptiert zu sein, gehört zu unseren psychologischen Grundbedürfnissen. Seit Michelle weiß, dass sie nicht krank ist, akzeptiert sie sich so, wie sie ist.

Der Hormonspiegel ist bei den meisten asexuellen Menschen unauffällig. Außerdem haben sie körperlich alle Anzeichen von sexueller Erregung wie eine Erektion oder Lubrikation der Vagina, es besteht also keine organische Krankheit. Nur wenn jemand Intimität, egal auf welcher Ebene, komplett vermeidet und sich deshalb das Label "asexuell" gibt, kann ein unerkanntes Problem dahinter stecken. Denn Intimität ist ein sogenanntes psychosoziales Grundbedürfnis.
Intimität als Grundbedürfnis
Anders als auf Atmen, Schlafen, Essen und Trinken können wir auf die psychosozialen Grundbedürfnisse eine Weile verzichten. Aber wir müssen kompensieren. Wenn ich zum Beispiel keine Partnerschaft habe, suche ich mir meine Zugehörigkeit und meine Intimität vielleicht bei meinen Freunden und meiner Familie.

Bisher gibt es eine einzige Studie, in der Wissenschaftler einen Querschnitt der Bevölkerung danach befragten, ob sie sich als nicht sexuell empfinden. Diese Befragung wurde zwischen 2000 und 2001 in Großbritannien durchgeführt. Anthony Bogaert hat die Daten für seine Forschung ausgewertet: Bei einer der ersten Studien, die er gemacht hat, haben etwa ein Prozent einer nationalen Kohorte angegeben, sich niemals sexuell zu anderen hingezogen zu fühlen. Übrigens sind vermutlich mehr Frauen als Männer betroffen.
Unter denjenigen, die in dieser Studie "habe mich nie sexuell zu jemandem hingezogen gefühlt" antworteten, lebten dennoch 30 Prozent der Männer und 25 Prozent der Frauen in einer Beziehung, einige hatten Kinder. Für andere Kulturkreise als den europäisch-nordamerikanischen gibt es überhaupt keine Erhebungen.
Forschung zur Asexualität steht am Anfang
Dabei könnte sie einen Perspektivwechsel bieten: Wer sich mit der Abwesenheit von Lust beschäftigt, bemerkt plötzlich, wie viele wissenschaftliche Fragen beim Thema Sexualität noch offen sind, findet Sozialpsychologe Anthony Bogaert. Denn dadurch, dass für asexuelle Menschen zum Beispiel romantische Gefühle klarer von Sex abgekoppelt sind, bekommt die Forschung darüber, wie Sex und Liebe eigentlich zusammenhängen, eine neue Perspektive.
Homo- oder transsexuelle Menschen werden oft diskriminiert. Auch Asexuelle erleben häufig soziale Nachteile. Michelle passiert das zum Glück nicht so oft, bei ihr sind es eher neugierige Nachfragen. Doch die Unterstellung, dass sie ja krank sein oder ein Trauma haben müsse, weil sie keinen Wert auf Sex legt, sind Diskriminierungen.
Derart abgelehnt zu werden kann zu großem emotionalen Stress führen. Eine US-amerikanische Studie aus dem Jahr 2010 ergab, dass asexuelle Menschen häufiger psychische Probleme wie Angstzustände, Depressionen oder Suizidgedanken hatten als heterosexuelle Menschen. Diese Befunde decken sich mit vergleichbaren Untersuchungen über homosexuelle Menschen. Das wiederum legt den Schluss nahe, dass nicht die sexuelle Orientierung an sich das Problem ist, sondern die Diskriminierung, die Menschen erfahren.
SWR 2017/19