Fußgänger, Radfahrer, Mopeds und Tuc-Tucs auf einer belebten Einkaufsstraße in Mumbai (Foto: SWR, SWR -)

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Medizintourismus in Indien – Von Ayurveda bis zur Herz-OP

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Nina Marie Bust-Bartels
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Ulrike Barwanietz
Ralf Kölbel
Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)

Herz-OPs für 800 Dollar, Ayurveda-Kuren in paradiesisch schönen Resorts. Indien zieht jährlich Hunderttausende Medizintouristen aus aller Welt an.

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Indien hat das am stärksten privatisierte Gesundheitssystem der Welt. Kliniken bieten Organtransplantationen ohne Wartelisten an, Kinderwunschzentren machen möglich, was in vielen Ländern verboten ist. Indische Ärzte sind hochqualifiziert, die Technik ist auf neustem Stand, trotzdem sind Behandlungen günstig. Das zieht Menschen ohne Krankenversicherung aus aller Welt an. Deutsche Medizintouristen suchen eher traditionelle Heilverfahren. In Ayurveda-Resorts wird Strandurlaub mit Detox-Kuren zum Wellness-Erlebnis.

Gute medizinische Versorgung zu günstigen Preisen

Auf einem Bildschirm in Dr. Devi Shettys Büro ist das schlagende Herz eines Patienten zu sehen. Der Kranke liegt bereits auf dem Operations-Tisch, sein Brustkorb ist geöffnet, gleich soll der eigentliche Eingriff beginnen. Vor den Fenstern sticht subtropische Sonne auf das geschäftige Treiben in der südindischen Stadt Bangalore.

Das Krankenhaus liegt am Rande dieses weltberühmten Zentrums für Informations-Technologie. Es ist Mittag, Angestellte strömen aus den Bürogebäuden und sammeln sich um die zahlreichen Garküchen auf den Straßen. Im Büro Devi Shettys ist an Pause nicht zu denken.

Im Jahr 2000 gründete Dr. Shetty das Krankenhaus Narayana Health in Bangalore. Mittlerweile ist Narayana ein börsennotiertes Unternehmen mit 29 Kliniken in 18 indischen Städten. 2014 eröffnete Narayana außerdem eine Klinik auf den Cayman Islands vor der Ostküste der USA.

Operation im Krankenhaus Narayana Health in Bangalore (Foto: SWR, SWR - Nina Marie Bust-Bartels)
Operation im Krankenhaus Narayana Health in Bangalore

Globalisierter Operationssaal

In dieser globalisierten Welt sind auch medizinische Behandlungen mittlerweile globalisiert. In der Heidelberger Innenstadt trifft man arabische Patienten, die sich in einer Privat-Klinik behandeln lassen, und Berliner Krankenhäuser werben auf der internationalen Tourismusmesse um Kunden aus dem Ausland.

Insgesamt fliegen jedes Jahr rund 200.000 Medizintouristen nach Deutschland. Deutsche reisen ihrerseits in ausländische Kliniken, zum Beispiel für preiswerte Schönheitsoperationen oder Zahnbehandlungen, nach Osteuropa oder in die Türkei. Doch Europa ist Schlusslicht auf diesem globalen Markt.

Ein Stethoskop liegt auf einem EKG (Foto: Getty Images, Thinkstock -)
Im vergangenen Jahr stellten indische Behörden 350.000 Visa für Medizintouristen aus

Weniger als fünf Prozent der Medizintouristen weltweit reisen in die EU. Die meisten Kranken zieht es nach Asien. Dort boomt die Industrie vor allem in Singapur, Thailand, Südkorea, Malaysia – und in Indien. 2016 stellten indische Behörden 350.000 Visa für Medizintouristen aus. Volkswirtschaftler des Riesenlandes gehen derzeit von jährlichen Wachstumsraten um die 25 Prozent aus.

Operieren im Wettlauf mit der Zeit

Wie viele private Krankenhäuser in Indien ist das Narayana-Krankenhaus JCI-zertifiziert. Das heißt, es entspricht den medizinischen Standards einer in den USA ansässigen Agentur. JCI-zertifizierte Kliniken bieten moderne Technik und gut ausgebildete Ärzte. Trotzdem zahlt man bei Dr. Shetty für eine Herz-OP nur umgerechnet 1.300 Euro.

Dafür reisen Patienten aus der ganzen Welt nach Indien. Devi Shetty hat schon mehr als 20.000 Herzen operiert. Diese OP ist kompliziert und wird 8 Stunden dauern, aber an manchen Tagen schaffen er und sein Team drei oder vier Eingriffe. Sie bieten Discount-Operationen sozusagen am Fließband.

Doch: Je weniger eine Herz-OP kostet, desto mehr Menschen können sie sich leisten. Für Dr. Shetty heißt das: Je öfter sie operieren, desto geringer der Preis. Das enorme Tempo der Eingriffe rettet Menschenleben. Aber Zeit ist nicht der einzige Kostenfaktor. Bereits 40 Prozent der Kosten entstehen allein durch den teuren Import der Materialien und Geräte.

Solidarische Preise

Drei Stockwerke unter dem Operationssaal, in der Eingangshalle von Narayana Health, durchwirbeln Ventilatorenblätter die feucht-heiße Luft. Jeder Stuhl ist belegt. Auch auf dem Boden sitzen Menschen, einige haben die Köpfe auf ihre Koffer gelegt, die Augen geschlossen. Viele sind weit gereist, alle sind arm.

Eingangshalle von Narayana Health (Foto: SWR, SWR - Nina Marie Bust-Bartels)
Eingangshalle von Narayana Health

Gleich neben der Wartehalle hat Lakshmi Mani ihr kleines Büro. Zu der zierlichen Frau im roten Sari kommen alle, die derzeit 1300 Euro für eine Herz-Operation nicht aufbringen können. Die Zuschüsse zu diesen Operationen stammen von privaten Spendern – viele von ihnen waren früher selbst Patienten bei Dr. Shetty.

Mehr als die Hälfte der Kranken mit denen Lakshmi Mani solidarische Preise aushandelt, stammt aus dem Ausland. Aus Bangladesch, aber auch aus dem Mittleren Osten und aus afrikanischen Ländern. Europäer konsultieren Dr. Shetty nicht – sie haben meist eine funktionierende Krankenversicherung in ihrer Heimat.

Ayurveda-Kuren und Yoga-Kurse

Dennoch reisen auch aus Europa Medizintouristen nach Indien. Sie zieht die traditionelle indische Medizin an: Ayurveda-Kuren und Yoga-Kurse. Ayurvedische Medizin ist nicht mit naturwissenschaftlicher Schulmedizin zu vergleichen.

Sie geht davon aus, dass jeder Mensch drei sogenannte Doshas – frei übersetzt Problemquellen – in sich trägt. Sie bestimmen seine individuelle Konstitution, regulieren seinen Körper und Geist. Ziel der ayurvedischen Medizin ist es, die Doshas Vata, Pitta und Kapha im Gleichgewicht zu halten.

Die Therapie besteht aus Massagen und Ölgüssen, Kräutertees und pflanzlichen Medikamenten. Seit die Hindu-nationalistische Partei in Indien an der Macht ist, boomt Ayurveda. Premierminister Narendra Modi sieht in dem Jahrtausende alten Heilwissen eine genuin indische „Marke“ – und eine Möglichkeit, Indien nach vorne zu bringen, ohne Errungenschaften westlicher Staaten zu imitieren.

Armut und Organspenden

Für Medizintouristen aus Europa, Australien und den USA ist Indien auch für Behandlungen interessant, die anderswo nicht so leicht zu bekommen sind. Neben Ayurveda sind das vor allem Leihmutterschaft und Organtransplantationen.

Noch gibt es kein entsprechendes Gesetz, aber die indische Regierung favorisiert die „mutmaßliche Zustimmung“ bei Organspenden. Das bedeutet, dass jeder bei seinem Tod automatisch zum Organspender wird. Wer das nicht will, muss ausdrücklich widersprechen. Das ist für weniger gebildete Menschen schwierig bis unmöglich.

Blick auf Dhobi Ghat - die Wäscherei Mumbais (Foto: SWR, SWR -)
Die meisten Menschen in Indien haben keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung

Der Medizintourismus bringt Indien Devisen und ist ein Motor für technische und wissenschaftliche Innovation. Für Menschen ohne Krankenversicherung aus Afrika, dem Mittleren Osten und Asien ist es die einzige Möglichkeit, eine bezahlbare Behandlung zu bekommen. Die meisten Menschen in Indien haben keinen Zugang zu Gesundheitsversorgung.

Produktion 2017/2018

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Ralf Kölbel, Online-Redakteur bei SWR Wissen aktuell sowie Redakteur bei SWR2 Wissen. (Foto: SWR, Christian Koch)