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Medizinische Beschneidung von Jungen – Muss die Vorhaut wirklich weg?

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Insa Onken
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Lange galt die Jungen-Beschneidung als harmlos. Zunehmend beklagen beschnittene Männer aber psychische und körperliche Folgen. Medizinisch notwendig ist der Eingriff nur selten.

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Zirkumzision bei Vorhautverengung wird zunehmend hinterfragt

In Deutschland wird jährlich circa 35.000 Jungen unter 15 Jahren die Vorhaut aus medizinischen Gründen operativ entfernt. Die Diagnose lautet meistens: Phimose, eine nicht zurückziehbare enge Vorhaut. Seit einigen Jahren sehen Expertinnen und Betroffene den Eingriff, die sogenannte Zirkumzision, jedoch zunehmend kritisch und hinterfragen, ob er wirklich medizinisch notwendig ist. Eine neue Leitlinie spiegelt diese Haltung wider. Dennoch sinkt die Zahl der Beschneidungen nur langsam.

Bei 96 Prozent der Jungen ist die Vorhaut bei der Geburt noch mit der Eichel verklebt und lässt sich nicht zurückziehen. Das ist ein ganz natürlicher Zustand und schützt in der Windel vor Verschmutzungen. Die Verklebungen lösen sich nach und nach. Dieser Prozess kann entgegen der lange geltenden Lehrmeinung bis zum Abschluss der Pubertät dauern, wie in der neuen Leitlinie festgehalten ist.

Noch immer gilt vielfach Lehrmeinung aus dem Jahr 1949

Doch lange galt: Die Vorhaut müsse sich spätestens bis zum Eintritt in die Schule zurückziehen lassen. Und wenn nicht, dann müsse sie entfernt werden. Diese Lehrmeinung basiert auf einer wissenschaftlichen Arbeit eines britischen Kinderarztes aus dem Jahr 1949.

Antikes Beschneidungsset, Niederlande 1827 (Foto: IMAGO, IMAGO / Heritage Images)
Antikes Beschneidungsset, Niederlande 1827

Obwohl spätere Studien diese Ergebnisse nicht bestätigten, wurden sie in der Fachliteratur fortgeschrieben und beeinflussten den ärztlichen Standard. Über Dreijährige mit einer Vorhautverengung wurden häufig direkt beschnitten. Zum Teil mit schweren Folgen für die heute erwachsenen Männer.

Jede Beschneidung fällt anders aus – Sensibilität kann beeinträchtigt werden

Bei einer Beschneidung kann unterschiedlich viel Haut entfernt werden. Daher haben manche Beschnittene eine lockere Penisschafthaut, andere dagegen eine sehr straffe, was bei Erektionen zu starken Spannungen und auch zu Schmerzen durch kleine Einrisse und Vernarbungen führen kann.

Die Vorhaut bedeckt die Eichel und schützt sie vor Verletzungen und Austrocknung. Doch sie ist auch mit besonders vielen Nerven ausgestattet und daher sehr sensibel für Stimulation. Wird die Vorhaut entfernt, fehlt dieses hocherogene Gewebe. An der Unterseite des Penis befindet sich das Vorhautbändchen, das Frenulum. Es gilt als die erogenste Zone des Mannes. Auch das Frenulum wird bei der Beschneidung meistens entfernt. Dadurch, dass die Eichel nach einer Beschneidung ständig frei liegt und mit Textilien in Berührung kommt, verhornt die Haut, was die Sensibilität zusätzlich vermindert.

Doch nicht jeder beschnittene Mann empfindet eine Einschränkung des sexuellen Erlebens. Das ist individuell sehr verschieden.

Phimose erhöht das Risiko für Peniskrebs

Peniskrebs ist ein seltener Tumor. Besteht eine Phimose beim erwachsenen Mann über einen längeren Zeitraum, erhöht dies das Peniskrebsrisiko. Eine Vorhautverengung im Erwachsenenalter sollte daher behandelt werden. Doch muss es nicht immer gleich eine Beschneidung sein. Alternativ kommt auch eine Dehnung mit Salben oder nur eine teilweise Entfernung der Vorhaut infrage.

Komplikationsrate von Beschneidungen liegt bei 5 Prozent

Die Komplikationsrate liegt laut der neuen Leitlinie bei ca. 5 Prozent. Dazu gehören kurzfristige leichte Komplikationen wie Nachblutungen, Wundinfektionen, aber auch schwere wie die Verletzung der Eichel und Harnröhre bis hin zum Tod. Langfristige Komplikationen sind darin jedoch nicht berücksichtigt.

Rechtliche Grundlage der Beschneidung von Kindern

Der Fall eines vierjährigen Jungen führte 2012 zu einem wichtigen Urteil des Kölner Landgerichts. Der Junge war aus religiösen Gründen in einer Praxis beschnitten worden. Zwei Tage später wurde er wegen Blutungen in die Uniklinik eingeliefert. Die Staatsanwaltschaft begann zu ermitteln, es kam zum Prozess.

Am 7. Mai 2012 wertete das Kölner Landgericht den medizinisch nicht notwendigen Eingriff als Körperverletzung. Das Wohl des Kindes stehe über dem Recht auf freie Religionsausübung der Eltern. Eine breite gesellschaftliche Diskussion brach los. Im Bundestag wurden Gesetzesentwürfe diskutiert.

Beschneidungsgesetz 2012 im Bundestag trotz Kritik beschlossen

Am 12. Dezember 2012 wurde im Bundestag das sogenannte Beschneidungsgesetz beschlossen. Entgegen der Kritik von Betroffenen und entgegen der Empfehlung von Ärzte- und Kinderschutzverbänden. Es legalisiert die medizinisch nicht erforderliche Vorhautentfernung an Jungen aus jeglichem Grund.

Voraussetzung für den Eingriff ist, dass er nach den Regeln der ärztlichen Kunst durchgeführt wird. In den ersten sechs Monaten nach der Geburt eines Kindes dürfen auch Nicht-Ärzte, die dafür besonders ausgebildet sind, eine Vorhautentfernung vornehmen.

Beschneidungsgesetz verletzt das Recht auf körperliche Unversehrtheit

Viele Juristinnen sehen das Gesetz als verfassungswidrig an, da es das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit, Selbstbestimmung und Religionsfreiheit verletzt. Zudem widerspreche es dem Gleichheitsgrundsatz. Jungen sind seither – im Gegensatz zu Mädchen und intergeschlechtlichen Kindern – nicht vor Eingriffen an ihren Genitalien ohne medizinische Notwendigkeit geschützt.

Während das Gesetz Beschneidung ohne medizinische Indikation erlaubt, wird sie unter Medizinern zunehmend kritisch gesehen. Unter Leitung von Maximilian Stehr wurde die Phimose-Leitlinie überarbeitet, die Beschneidung nur noch in seltenen Fällen empfiehlt. Stehr ist Chefarzt der Kinderchirurgie an der Cnopfschen Kinderklinik in Nürnberg.

In den neuen Leitlinien gilt die Enge der Vorhaut als solches oder die Nicht-Zurückstreifbarkeit nicht mehr als pathologischer Befund per se. Maximilian Stehr empfiehlt eine Behandlung nur dann, wenn Beschwerden vorhanden sind oder unmittelbar drohen. Und das unabhängig vom Alter.

7. Mai ist der Weltweite Tag der genitalen Selbstbestimmung

Seit 2013 wird jährlich am 7. Mai der weltweite Tag der genitalen Selbstbestimmung begangen. Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft, Religion und jeden Alters sind dabei, so auch der Verein MOGIS, der den Beschneidungsbetroffenen eine Stimme gibt. Denn immer mehr Betroffene, die als erwachsene Männer unter ihrer Beschneidung leiden, melden sich öffentlich zu Wort. MOGIS ist ebenfalls an der neuen Leitlinie zu Bescheidungen bei Jungen beteiligt.

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