Wagner historisch informiert

Schön ist hässlich, hässlich schön: Wagner-Gesang im 19. Jahrhundert

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Nick-Martin Sternitzke
Autor Nick-Martin Sternitzke (Foto: Studioline)
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Dominic Konrad

In Bayreuth wird alljährlich das Werk von Richard Wagner neu interpretiert, frei nach dem Motto des Komponisten: „Kinder, schafft Neues!“ Doch wie klang denn eigentlich das „Alte“? Das Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth fragt sich in einem aktuellen Projekt, wie Wagner-Opern zu seinen Lebzeiten gesungen wurden.

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Wagner wollte nicht nur Schöngesang

„Schön ist hässlich, hässlich schön“, lässt Shakespeare seine weissagenden Hexen in „Macbeth“ zischen. Und genau dieser Widerspruch ist das Interessante, wenn man wissen will, wie Wagner seine Rollen gesungen haben wollte. 

An einer Schrift kommt man Mitte des 19. Jahrhunderts nicht vorbei: die „Ästhetik des Hässlichen“. Der Philosoph Karl Rosenkranz hat sich darin mit dem Niederen, Gemeinen, Obszönen und Diabolischen in der Kunst auseinandergesetzt. Er schreibt: 

„Nur in der Kombination mit dem Schönen erlaubt die Kunst dem Häßlichen das Dasein; in dieser Verbindung aber kann es große Wirkungen hervorbringen.“

Und um diese „großen Wirkungen“ weiß auch Richard Wagner, der von diesen Kontrasten offensichtlich fasziniert war Seine Muse, die Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient, hat seine Opernrollen nicht einfach nur „schön“ gesungen.

Wilhelmine Henriette Friederike Marie Schröder-Devrient (Foto: IMAGO, Zoonar)
Wilhelimine Schröder-Devrient (1804 - 1860) war eine Cousine zweiten Grades von Johann Wolfgang Goethe. Sie gilt als die größte deutsche Gesangstragödin des 19. Jahrhunderts und sang in den Uraufführungen von Wagners Opern „Rienzi“, „Der fliegende Holländer“ und „Tannhäuser“.

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„Vom extremen pianissimo bis hin zum laut herausgeschrienen Ton ist da sehr viel möglich. Das gilt eben auch für die Modi des Singens“, erklärt Arno Mungen. Er leitet das Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth. „Das heißt, sie hat gesungen, aber sie hat eben auch gesprochen oder halb gesprochen oder eben auch geschrien.“

Mungen untersucht, wie man Wagner im 19. Jahrhundert gesungen hat: „Die Referenzgröße, die für unser Projekt hier zentral war, war die dramatische Sängerin Wilhelmine Schröder-Devrient, die 1860 verstorben ist und die in den 20er-, 30er- und 40er-Jahren des 19. Jahrhunderts aktiv war.“

Wie Wilhelmine Schröder-Devrient gesungen, geschrien, geraunt oder gekeift hat, können wir nicht hören. Das stellt das Forschungsprojekt vor große Herausforderungen: Wie soll man etwas, was nicht auf Tonträgern erhalten ist, wieder hörbar machen?

Eine wichtige Quelle, erklärt Mungen, waren Partien, die man für Schröder-Devrient geschrieben hat. So konnten über das Stimmnotat auch Rückschlüsse zu ihrem Gesang gemacht werden.

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Es ging ganz stark ums Erzählen

Rezensionen von Opernaufführungen des 19. Jahrhunderts erzählen viel darüber, wie Sängerinnen und Sänger ihre Partien interpretiert haben. Insbesondere eine Sängerin wie Schröder-Devrient, die die erste Senta im „Fliegenden Holländer“ und die erste Venus im „Tannhäuser“ gesungen hat.

Diese Rollen hat ihr Wagner auf die Stimme komponiert und war fasziniert, erklärt Arno Mungen, „weil bei ihr alles ganz stark über das Sprechen geht, das Erzählen dessen, was passiert.“

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Den originalen Wagnerklang rekreieren

Wie kann man heute eine solche erzählerische Kraft beim Singen entfesseln? Ausprobiert wird das gerade mit dem „Rheingold“, dem ersten Teil des „Ring des Nibelungen“, bei Aufführungen in Köln, Luzern und Ravello.

Die Sängerinnen und Sänger haben ihre Partien in Workshops neu erarbeitet. Der erste Schritt ist unspektakulär, aber im Opernbetrieb der Gegenwart selten: das Libretto lesen und sprechen. Die Mezzosopranistin Eva Vogel singt eine der drei Rheintöchter im Stück. Sie muss, das ist der zweite und wesentliche Schritt, den Text rhythmisch lesen. „Es ist eine schauspielerisch-sprachliche Musik-Gesamtleistung!“, findet Eva Vogel.

Die Rheintöchter aus Wagners Oper „Rheingold“ (Foto: IMAGO, KHARBINE-TAPABOR)
Wagner verstand seine Opern als ganzheitliche Kunstwerke. Musik, Schauspiel und Bühnenerlebnis sollten zu einem ganzheitlichen künstlerischen Erlebnis verschmelzen. So sollten die Rheintöchter im „Rheingold“ wie Nixen durch das Wasser schwimmen.

Der Versuch eines historisch-informierten Wagner-Gesangs

Was eine historisch informierte Interpretation auch ausmacht: das ganz bewusste Nicht-Singen von Noten. Für viele ein Sakrileg, denn jede Tonhöhe, -dauer und -intensität hat ihre Bedeutung. Und trotzdem hat auch Wagner seiner Sängerin Freiräume gewährt, die sie selbst gestalten konnte.

„‚Jetzt küsst sie sein Auge, dass er es öffne‘, das habe ich gesprochen. Das ist dann so ein Wow-Moment. Keiner erwartet das“, erklärt die Wagner-Sängerin Eva Vogel, „und das ist auch im Stück, so wie es komponiert ist, ein relativ ruhiger Moment.“

Gegen Schubladendenken bei Rollenfächern

Es erfordert Mut, sich über das Komponierte hinwegzusetzen, selbst zu gestalten und dabei eben nicht zu singen. Die Ausbildung an Hochschulen trimmt auf Schöngesang und Wohlklang. Danach werden Stimmen beurteilt.

Es sei auch erstaunlich, was man über dieses Projekt erfahre, findet Anno Mungen: „Nämlich, dass es diese Grenzziehungen ganz stark im Sängerischen gibt.“  Heute gelten strikte Facheinteilungen, strikte Zuweisungen von bestimmten Stimmfarben für bestimmte Rollen.

„Es wäre schön, wenn man für solche Dinge einmal Workshops anbieten könnte an den Musikhochschulen“, findet der Bayreuther Musikforscher, „einfach um auch eine Lockerung zu erzielen im Hinblick auf den Gegenstand, also auf die Musik!“

Wagner war, zumindest in dieser Hinsicht, erstaunlich locker und hat seinen Stimmen Freiheiten zugestanden: Mut zum Spiel und Mut zur Hässlichkeit.

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