Der in Mainz geborene Stefan Moster ist einer der renommiertesten Übersetzer aus dem Finnischen und Schriftsteller. Im Mare Verlag erscheint nun sein neuer Roman. „Bin das noch ich“ erzählt von der Selbstfindung eines Musikers nach dem Verlust der gewohnten Rolle im Leben. Ein einfühlsamer Künstlerroman.
Wenn die Hand eines Geigers nicht mehr tut, was sie soll
Mit seinem neuen Roman „Bin das noch ich“ thematisiert Stefan Moster die Selbstfindung nach dem Verlust der gewohnten Rolle im Leben. Es geht um die Frage, was ein Berufsgeiger ohne seine Geige noch sein kann? Simon Abrameit, der Held des Romans, ist leidenschaftlicher Musiker.
Nach der durch die Corona-Pandemie erzwungenen Auftrittspause ist der Mittfünfziger glücklich, bei einem Kammermusikfestival in Finnland endlich wieder auftreten zu können, auch wenn er bei den ersten Konzerten nur die zweite Geige spielen soll. In seine Vorfreude auf die Konzerte mischen sich jedoch ständig dunkle Befürchtungen, weil neuerdings die Finger seiner linken Hand nicht wie gewohnt funktionieren.
Dieses Handicap bereitet ihm größte Sorge wegen seines Soloabends in der alten Kirche mit der C-Dur-Sonate und der d-Moll-Partita von Johann Sebastian Bach, gefolgt von der Sonate für Violine solo von Béla Bartók. Einigermaßen hält er bei Bach durch, doch bei Bartóks radikalen Stück mit seinen haarsträubenden Schwierigkeiten passiert es:
„Als der dritte Finger das A und der vierte das Cis greifen soll, schmerzt die Hand nicht nur, wie sie bei diesem Griff ohnehin geschmerzt hätte, sondern erstarrt in einer Qual, die den ganzen Arm sowie die linke Schulter lahmlegt. Und wer die Schwingen nicht mehr strecken kann, stürzt ab.“
Selbstfindung in der Einsamkeit
Simon muss das Konzert abbrechen. Er flieht in die Sakristei. Ihm folgt die befreundete Musikerkollegin Mai. Die Geigerin hat sofort realisiert, wie seine Angst zur Panik wurde und sämtliche Mechanismen der Selbstbeherrschung entkräftet hat.
Dem schockierten Simon bietet sie an, ihm ihr Ferienhäuschen auf einer Schäreninsel in der nördlichen Ostsee zu überlassen, damit er sich erholen und über seine Lage klar werden kann. Viel Wahlmöglichkeiten hat er nicht. Also nimmt er an.
Er wird mehrere Wochen auf der Insel am 60. Breitengrad bleiben, auf der im Sommer keine echte Dunkelheit einkehrt. Ausgesetzt wie Robinson Crusoe macht er sich zunehmend mit der Insel und dem Meer vertraut. Er lernt Holzhacken, Bootfahren, übt sich im Bogenschießen und er lernt, die Natur zu beobachten.
Sturmmöwen schließt er besonders ins Herz und bald kann er den Gesang einer Nachtigall von anderen Vogelstimmen zu unterscheiden.
„Die Phrasen sind länger und diffiziler gestaltet, auch fehlt das für die Nachtigall charakteristische Schlagen. Stattdessen ertönt eine ganz und gar erstaunliche Vielfalt an Motiven, die noch dazu vielfach variiert werden. In der Natur ist das Gleiche niemals identisch. Ob daher die Faszination der Komponisten für die Vögel kommt?“
Moster ist immer nah an seinem Protagonisten
Autor Stefan Moster schildert die existenzielle Selbstreflexion des Geigers Simon aus der Erzählerperspektive und ist dabei immer nah an ihm dran. Mir gefällt besonders, dass sich der Blick hinter die Kulissen des Daseins als klassischer Musiker auch auf das Leben überhaupt bezieht. Und mich begeistern die vielfältigen Aspekte.
So schiebt Moster zwischen seine Schilderungen Simons Briefentwürfe an die inzwischen weltberühmte russische Geigerin Darja ein. Als junge Frau hat sie ihm bei einem Wettbewerb seine Grenzen aufgezeigt. Für die Fähigkeit, sein Schicksal zu akzeptieren, bleiben Bach und Bartók wichtig. Eine immer größere Rolle spielt aber das Meer.
Es ist immer in Bewegung, verwandelt sich ständig und bleibt sich doch gleich:
„Ich ging zum Meer. Ein winziger Defekt. Ein einziger, winziger Defekt durchkreuzt mein Leben und macht das Bild, das ich von mir gehabt habe, zunichte. Durchaus möglich, dass der Arzt sagt, man könne daran nichts ändern. Dann wird es mich als Spielenden nicht mehr geben. Dann werde ich keine Platte aufnehmen, um den Menschen zu zeigen, dass ich wieder zwei Hände habe, denn meine Finger werden niemals mehr die Bewegungen ausführen, die sie seit fünfzig Jahren üben. Dann war ich Musiker und bin es nicht mehr.“
Ein Blick auf den knallharten Klassik-Musikbetrieb
Auf 272 Seiten skizziert Moster die allmähliche Akzeptanz eines Musikers, dass er durch eine nicht heilbare neurologische Erkrankung sein Leben ändern muss. Die Frage, ob und wie es mit Simon ohne seine Geige weiter geht, bleibt offen. Dabei wirft Stefan Moster einem kritischen Blick auf den knallharten klassischen Musikbetrieb aus Sicht eines freischaffenden Instrumentalisten.
Moster ist Hobby-Ornithologe und so gelingt die Schilderung meisterhaft, wie sein Protagonist durch die einfühlsame Beobachtung der Vogelwelt und der Natur sich als Mensch erstmals anders wahrnimmt. Der gewohnte Beruf macht eben nicht die ganze Person aus.
Der Autor hat sein fundiertes musikalisches Wissen so einfühlsam und stilsicher verarbeitet, dass der Roman ein breites Publikum erreichen kann. Die Auseinandersetzung mit Identitätsfragen kann jeden angehen, der solch einen Schicksalsschlag erleiden muss und dies kommt für mich im Buch wunderbar zur Geltung.
Buchkritik Stefan Moster - Alleingang
Ein 51-jähriger Mann, ehemaliger KFZ-Mechaniker und Taxi-Fahrer, wird zum dritten Mal aus dem Gefängnis entlassen. Er erinnert sich an sein Leben und wie er zu dem wurde, der er ist. Stefan Moster erzählt in seinem Roman „Alleingang“ leise und einfühlsam von einem Außenseiter, der nicht zuletzt wegen seines ausgeprägten Gerechtigkeitsgefühls nach und nach auf die schiefe Bahn gerät.
Rezension von Gerrit Bartels.
Mareverlag
362 Seiten
24 Euro
Mehr Buch-Tipps
Buch-Kritik „Sexy knackige Rheintöchter-Teenies“: Prinz Rupis sexistischer „Ring“
Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ ist ein enorm komplexes Stück Opernliteratur. Der „Ring“, nacherzählt von „Prinz Rupi“, ist gespickt mit sexistischen Frauenbildern.
Buch-Tipp Adriana Popescu: Goldkehlchen – Erinnerungen voller Lieder
Wie klang Ihr erstes Date? Welches Lied haben Sie gesungen bei Ihrem ersten Auftritt mit dem Schulchor? Gibt es eine Musik, die Sie mit Ihrer Mutter verbinden? Über den Soundtrack der Erinnerungen hat Adriana Popescu einen Roman geschrieben: „Goldkehlchen – Erinnerungen voller Lieder“ lautet der Titel. Eine junge Dirigentin übernimmt darin einen Chor der besonderen Art. Julia Schwarz hat die „leichte Lektüre über ein sehr schwerwiegendes Thema“ gelesen.
Buch-Tipp Sachlich und lesenswert: „Ferenc Fricsay: Der Dirigent als Musiker“
Der Dirigent Ferenc Fricsay kam 1914 in Budapest zur Welt, in jenem Jahr, als der Erste Weltkrieg ausbrach. Vom Leiter einer Militärkapelle führte ihn seine Karriere zu den Salzburger Festspielen und zu renommierten Orchestern. Fricsays große Zeit als Dirigent liegt jedoch in den Jahren nach Ende des Zweiten Weltkriegs, als er vor allem in Berlin maßgebliche musikalische (Wieder-) Aufbauarbeit geleistet hat. Jetzt ist eine Monographie über Fricsay erschienen, die sein Leben und seine künstlerischen Vorlieben genauer beleuchtet. Christoph Vratz über „ein erfreulich sachliches und lesenswertes Buch“.