Instrument mit schmaler Mensur

Pionier-Projekt in Stuttgart: Der Sirius-Flügel könnte die Klavierwelt revolutionieren

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AUTOR/IN
Miriam Stolzenwald
ONLINEFASSUNG
Dominic Konrad

Seit 2020 steht in der Stuttgarter Hochschule für Musik und darstellende Kunst der Flügel Sirius 6.0, ein Instrument mit schmaleren Tasten als auf der Normtastatur. Alle Studierenden dürfen darauf üben. Obwohl es nur um wenige Millimeter geht, berichten sie von ungeahnten Erfolgen.

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„Man hat eine größere Farbpalette“

Jedes Mal, wenn Yu Tashiro an dem Sirius-Flügel spielt, ist er überwältigt und überrascht. Ein paar Minuten müsse er sich zwar auf das Instrument einstellen, aber dann sei er immer wieder „geflasht“.

„Man hat eine größere Farbpalette“, erklärt Tashiro, der in Stuttgart im Master Klavier studiert, „zum Beispiel das Balancieren von Stimmen, also Oberstimme zur Bassstimme, das funktioniert einfach stimmiger.“

Man habe einfach weniger Spannung im Handrücken und müsse seine Hand nicht mehr so stark strecken. Und man habe auch weniger Schmerzen. Auf Sirius übt er bereits seit drei Jahren.

Kind spielt Klavier (Foto: IMAGO, Westend61)
Gerade für Menschen mit einer kleineren Fingerspannweite stellt die Normtastatur eine Herausforderung dar. Auch Heranwachsende könnten daher von der Sirius 6.0 profitieren.

12 Millimeter weniger pro Oktave

Der Sirius-Flügel ist pro Oktave 12 Millimeter schmaler als die Normklaviatur. Das entspricht einer halben Taste pro Oktave. Damit war der Sirius-Flügel in Stuttgart der erste mit dieser Mensur an einer europäischen Musikhochschule, inzwischen aber nicht mehr der einzige.

Gerade Spielerinnen und Spieler mit kleineren Hand-Spannweiten haben es auf der schmaleren Tastatur leichter. Zum Beispiel bei weiten Griffen mit vielen Tönen. Auf der Normklaviatur kann das zu schmerzhaften Spannungen führen, weil die Hand ungünstig abgewinkelt steht. Das ist auf Sirius anders.

Und das hat beim Üben Vorteile, findet Tashiro: „Dort, wo ich auf dem Normflügel eben ein paar Pausen einlegen muss, damit ich meinem Körper nicht schade, da kann ich eben auf Sirius noch die letzte Meile machen in den Übe-Sessions.“ Diese längere Ausdauer ist für ihn ein großer Gewinn.

„Das Ganze ist natürlich auch ein Gender-Thema“

Die Klavierprofessorin Ulrike Wohlwender leitet das Projekt mit dem Sirius-Prototypen in Stuttgart. Woher die DIN-Norm der heutigen Tastaturen eigentlich kommt, darüber kann sie nur spekulieren.

Die Normklaviatur gibt es etwa seit 1880. Möglicherweise habe die Industrialisierung auf die Normierung eingewirkt, vermutet Wohlwender. Oder reisende Virtuosen wie Franz Liszt, die sich eine Normgröße gewünscht haben, auch zum Nachteil von Frauen.

„Das Ganze ist natürlich auch ein Gender-Thema. Es gibt eben mehr Frauen mit kleineren oder mittelgroßen Händen als Männer.“

„Die Spreizung von Daumen bis zum kleinen Finger, dieser Mittelwert ist bei Frauen 2,1 Zentimeter geringer als bei Männern. Fast eine ganze Taste“, erklärt Professorin Wohlwender. „Es schlägt sich dann eben in Anstrengung wider oder in Repertoireauswahl, dass man bestimmte Stücke nicht spielen kann, oder auch in Überanstrengungssyndromen.“

Und nicht zuletzt auch in Wettbewerbserfolgen, merkt Wohlwender an. Große internationale Wettbewerbe würden deutlich häufiger von Männern gewonnen als von Frauen.

 

Mann spielt Klavier (Foto: IMAGO, Gottfried Czepluch)
Die normierte Klavier-Tastatur ist auf die Mensur von Männerhänden ausgelegt. Das bringt gerade Pianistinnen Nachteile, gerade auch bei Klavier-Wettbewerben.

Verbesserte Körperhaltung dank Sirius 

Silvia Molan profitiert auch von der engeren Mensur des Sirius-Flügels. Sie hat in Stuttgart ihre künstlerisch-pädagogische Ausbildung in Klavier gemacht. Beim Üben beobachte sie unter anderem eine verbesserte Körperhaltung insgesamt, sagt sie.

Außerdem könne sie Stimmen besser führen und rhythmisch präziser spielen. Beispielsweise bei Schumanns Carnaval: „Hier erreiche ich einen schönen Klang und passenden Charakter, indem ich die obere Stimme ohne Pedal binde und mit den Daumen und mit der linken Hand ein Staccato schaffe.“

 Ulrike Wohlwender hofft, dass der Flügel perspektivisch spielbedingte Überlastungssyndrome vorbeugt und Pianistinnen und Pianisten ihr künstlerisches Potenzial besser entfalten können.

Wechselklaviaturen könnten ein Modell für die Zukunft werden

Bleibt noch die Frage, wie man die Übepraxis nach langem Üben auf Sirius wieder ins „echte“ Konzertleben auf die Normtastatur übertragen kann.

Ulrike Wohlwender meint: „Wir adaptieren ja ständig, was den Auslösepunkt betrifft, was die vielen, vielen Dynamikabstufungen betrifft. Da ist jedes Instrument sowieso anders und jetzt kommt die Facette der Klaviaturmensur nur noch dazu.“

An der Musikhochschule in Stuttgart wird gerade für einen der Konzertflügel eine Wechselklaviatur angeschafft, damit die Tastatur binnen Minuten einfach ausgetauscht werden kann. Dann könnten Studierende bei Konzerten selbst entscheiden, auf welcher Tastatur sie spielen wollen, der Norm oder der schmaleren.

Langfristig wünscht sich Ulrike Wohlwender, dass das ein Modell für die großen Konzertsäle wird.

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