Kommentar

„Eine verlogene Entscheidung“ – Zur Diskussion um die zurückgezogenen Winnetou-Kinderbücher

Stand
Autor/in
Carsten Otte

Der Ravensburger Verlag hat nach öffentlicher Kritik zwei Winnetou-Kinderbücher aus dem Programm genommen. „Zum Fremdschämen erbärmlich“ findet SWR2 Literaturkritiker Carsten Otte die literarische Qualität jenes Winnetou-Abklatsches für Kinder, der mit Karl Mays Vorlage kaum etwas zu tun habe. Verlogen sei die Entscheidung des Verlags trotzdem.

Die Volksseele kocht

Wenn kollektive Kindheitserinnerungen auf dem Spiel stehen, kocht die Volkseele: Viele Generationen vor allem in Westdeutschland haben die Werke Karl Mays, insbesondere die Trilogie zu Winnetou verschlungen, und nun soll dieses beglückende Leseerlebnis in Frage gestellt werden.

Jedenfalls erweckt die Entscheidung des Ravensburger Verlags, zwei Bücher zum aktuellen Kinderfilm „Der junge Häuptling Winnetou“ nach heftiger Kritik zurückzuziehen, den Eindruck, als wäre das Werk Karl Mays heutzutage nicht mehr vertretbar.

Die Bücher sind zum Fremdschämen schlecht

Die Begründung des Verlags ist bemerkenswert: „Der Stoff ist weit entfernt von dem, wie es der indigenen Bevölkerung tatsächlich erging. Vor diesem Hintergrund wollen wir als Verlag keine verharmlosenden Klischees wiederholen und verbreiten (…).“

Wer hätte das gedacht? In der Tat ist die Qualität jener Kinderbücher, die mit Karl May nur peripher etwas zu tun haben, zum Fremdschämen erbärmlich: Hölzern die Dialoge, klischeehaft die Figuren, überall Stereotype vom sogenannten Wilden Westen und edlen Indianer.

Verlogen ist die Ravensburger-Entscheidung trotzdem

Doch verlogen ist die Ravensburger-Entscheidung trotzdem. Hat sich denn niemand in dem Verlag die Lizenzprodukte der Filmfirma vor Drucklegung angeschaut? So berechtigt die Kritik etwa von Seiten der Native Americans sein mag, wird doch erst der Vermarktungsstopp zum grundsätzlichen Problem.

Denn welches Buch wird als nächstes aus dem Sortiment gestrichen, weil es schlecht oder böse ist? Muss etwa „American Psycho“ von Bret Easton Ellis, im Grunde die ganze sexualisierte Popkultur nicht endlich vom Markt verschwinden?

Eine global erfolgreiche Serie wie „Game of Thrones“ arbeitet nahezu ausschließlich mit stereotypen Versatzstücken, mit dem Mitteln der kulturellen Aneignung. Gibt es demnächst Demos vor den Büros des Streaming-Dienstes?

Halbwahrheiten, Übertreibungen und Ängste

Natürlich nicht. Und das ist auch gut so. Zur Dynamik solcher Debatten gehört aber inzwischen, dass mit Halbwahrheiten, Übertreibungen und Ängsten gezielt Stimmung gemacht wird.

Kaum hatte sich Ravensburger erklärt, hieß es von wutbürgerlicher Seite, dass nun Winnetou gecancelt sei. Was wiederum Quatsch ist, die Bücher aus dem Karl May Verlag sind weiterhin erhältlich.

Achtung: Fiktion!

Selbst der geschätzte SWR-Kollege Martin Schmidt kommentierte in den ARD-Tagesthemen die Entscheidung des Ravensburger-Verlages mit einer Fehlinformation. „Vielleicht hätte ein Hinweis im Buch helfen können“, dass das Leben der indigenen Bevölkerung wenig mit der „Friedenspfeifen-Romantik“ Karl Mays zu tun habe.

Tatsächlich gibt es diesen Hinweis noch vor dem Inhaltsverzeichnis, in beiden Kinderbüchern: „Der Film und seine Nacherzählungen“, heißt es dort, „sind in Anlehnung an die von Karl May erfundene Welt rund um die Apachen entstanden. Die Handlung ist daher fiktional. Alle Namen und Szenen sind frei erfunden und zeichnen kein authentisches Bild der tatsächlichen Lebensweise indigener Völker in Nordamerika.“

Winnetou-Abklatsch wenig mit Karl Mays Vorlage gemein

Wobei die Formulierung in „Anlehnung an die von Karl May erfundene Welt“ schon Bände spricht. Wer noch einmal die von Hermann Wiedenroth und Hans Wollschäger vorbildlich editierte historisch-kritische Ausgabe der Karl-May-Werke, insbesondere die Winnetou-Bände zur Hand nimmt, wird schnell feststellen, wie wenig die zweifelhaften Angebote aus Ravensburg mit der literarischen Vorlage zu tun haben.

Was nicht ausschließt, die überschäumende Empathie Karl Mays für „die Roten“, wie der Autor vor 150 Jahren formulierte, heute zu hinterfragen, zu kritisieren oder - wie mehrfach geschehen – auch satirisch zu bearbeiten.

Zu bedenken gilt zudem, dass Karl May, dieser große Menschenfreund, für das Verständnis der indigenen Bevölkerung im deutschsprachigen Raum vermutlich mehr getan hat als die schärfsten Kritiker des läppischen Winnetou-Abklatschs für Kinder, die sich gegenwärtig ohnehin kaum noch für Mays Fantasiewelt interessieren. Ironischerweise folgt die erregte Diskussion rhetorischen Mustern, die das Niveau selbst der kitschigsten Winnetou-Szene deutlich unterbieten.

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