Buchkritik

Dirk Liesemer – Café Größenwahn 1890 - 1915. Als in den Kaffeehäusern die Welt neu erfunden wurde

Stand
AUTOR/IN
Andreas Puff-Trojan

„Café Größenwahn“ – so nannte man um die Jahrhundertwende die Kaffeehäuser „Griensteidl“ in Wien, das Berliner „Café des Westens“ und das in München ansässige „Café Stefanie“. Mit Akribie und Erzähllust beschreibt Dirk Liesemer die Kunstszene der Moderne bis zum Ersten Weltkrieg.

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Ein wenig größenwahnsinnig waren die Künstlergruppen von damals allemal: Sie dachten mit ihren Werken die Welt zu verändern. Letztlich veränderten die Weltumstände das Kaffeehaus und die Kunst. Voll Neugier betritt man Liesemers „Café Größenwahn“ gerne – wenn auch nur als Zaungast des 21. Jahrhunderts.

Dirk Liesemers Buch beginnt mit einem verheißungsvollen Satz.

„Wer an der Wende zum zwanzigsten Jahrhundert erfahren wollte, wohin sich die Welt bewegt, musste ins Kaffeehaus.“

Das Kaffeehaus – und da hat der Autor völlig Recht! – war nicht bloß ein Ort, an dem man sein heißes, koffeinhaltiges Getränk schlürfte, sondern es war eine Zusammenkunft Gleichgesinnter, ein „Debattierclub“, ja, eine „Art von öffentlichem Salon“, wie es im Buch heißt. Liesemer hat aber nicht irgendwelche große Kaffeehäuser im Visier, die es im damaligen Europa in großer Zahl gab, sondern drei bestimmte: das „Café Griensteidl“ in Wien, das Berliner „Café des Westens“ und das in München ansässige „Café Stefanie“.

Diese drei firmierten unter einem durchaus ironisch gemeinten Begriff: „Café Größenwahn“. Zuerst wurde dieser im Wiener Satiremagazin „Figaro“ für das Griensteidl erfunden. Doch bald schon hörte und las man diesen eigenwilligen Terminus außerhalb der österreichischen Monarchie.

„Der Name macht in den Kreisen der Bohème jedenfalls rasch Karriere und wird bald nach München und Berlin exportiert. So einprägsam ist er, dass er einmal als Metapher für die vielen geistigen und künstlerischen Aufbrüche rund um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert gelten wird.“

Bohème und Größenwahn gehörten zusammen

„Bohème“ und „Größenwahn“ gehörten damals zusammen wie die Henne und das Ei. „Bohème“ meint dabei Künstlerformationen der Wiener und Berliner Moderne, die auch vor München nicht Halt machte. Im „Café Größenwahn“ traf man Arthur Schnitzler, der Sigmund Freud folgend die Seelenlage des Menschen beschrieb – das tat ebenso Peter Altenberg, nur in Form von kürzeren Prosatexten.

Karl Kraus, der mit seiner Zeitschrift „Die Fackel“ den literarischen Journalismus auf Höchstform brachte. Adolf Loos, der als Architekt gegen das Ornament ankämpfte. Frank Wedekind, der mit seinen gesellschaftskritischen Stücken den Naturalismus überwand. Nicht fehlen dürfen die Expressionisten wie Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn und Oskar Kokoschka.

Und durchs ganze Buch begegnet man immer wieder Gräfin Franziska zu Reventlow – eine Lebenskünstlerin wie sie  das Boheme-Leben schrieb. Ebenso wie Lasker-Schüler ging sie zahlreiche Liebschaften ein. Doch wie lange eine Beziehung dauerte, bestimmten sie selbst. Ein Bonmot Lasker-Schülers trifft ebenso auf Reventlow zu:

„Gut sein ist sehr gut, aber gut zusammen wohnen ist Blödsinn.“

Natürlich kommen in Dirk Liesemers Buch noch eine Menge anderer Akteure vor, denn der Größenwahn erfasste viele – Künstler, Schauspieler oder stillere Beobachter – und trieb sie ins Café. Lotte Pritzel, Puppenkünstlerin und Modedesignerin, war im Berliner Café Größenwahn nicht nur eine erotische Erscheinung, nein, sie beherrschte auch den Wortwitz. Bei einem ausgelassenen Gelage dichtete sie das Lied von den zwei Königskindern stehgreifmäßig um.

„Es waren einmal zwei Molche, die hatten einander so lieb; das Männchen jedoch griff zum Dolche, denn die Molchin war eine Solche: Und das Wasser war viel zu tief."

Vermögendes Bürgertum und liberale Politik schaffen neues Klima

Der allumfassende Größenwahn entwickelte sich aus zwei Strängen: Ein vermögendes Bürgertum und eine liberale Politik erlaubte es, selbstsicher aufzutreten. Die Künstlerinnen und Künstler dachten, dass sie mit ihren Werken die Welt verändern könnten.

Der andere Strang betrifft die enorme Modernisierung von Wien, Berlin und München. Sie wurden zu Weltstädten, die plötzlich mit Paris und London konkurrierten, ja, sogar größenwahnsinnig meinten, diese beiden Zentren zu übertrumpfen. Es ist gelingt Dirk Liesemer auf äußerst anschauliche Weise, diese beiden Momente stets miteinander zu verknüpfen.

Zum Café Größenwahn gehören aber nicht nur die Bohemiens und Zaungäste, sondern auch die Kellner. Sie spielen in diesem illustrem Club Gleichgesinnter eine gewichtige Rolle. Im Münchner Café Stefanie ist es der Ober Arthur.

„Jeder darf ihn anpumpen, und braucht einer mal Wechselgeld, greift der Kellner in seine Tasche und wirft es dem Gast auf den Tisch. Mal passt es, mal weniger.“

Im Berliner Café des Westens regiert Oberkellner Hahn. Lasker-Schüler nennt ihn „König mit dem Zauberstab“.

„Er notiert penibel alles, was die Bohemiens bestellen, aber ihre Rechnungen lösen sich dann stets in Luft auf. Tatsächlich legt der Kellner sie nicht seinen Habenichtsen, sondern deren Mäzenen vor, die still all die Kaffees, Kuchenstücke und Mineralwasser ihrer Künstler übernehmen.“

Und die Kellner in Wien? Die sind sowieso alle halbe Künstler und Literaten – also größenwahnsinnige Strizzis!

Verknüpfung von Kunstwelt und Politik

Es ist ein echter Pluspunkt von Dirk Liesemers Buch, dass er den Größenwahn der Künstler mit dem Größenwahn der damaligen Politik verbindet. Nationalismus, Machtdemonstration, militärisches Säbelrasseln und fehlendes diplomatisches Geschick führten in die Katastrophe des Ersten Weltkriegs.

Von der aggressiven Kolonialpolitik des Deutschen Kaiserreichs über die Unruhen am Balkan bis zur Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand in Sarajevo beschreibt der Autor immer wieder geschichtliche Eckpunkte dieser Zeit. Mit dem Weltkrieg sollte auch die äußerst lebendige Kultur des Kaffeehauses ihr Ende finden.

Dirk Liesemer holt in seinem Buch „Café Größenwahn 1890-1915“ die vergangene Hochblüte künstlerischer Öffentlichkeit wissensreich in Sachen Kunst und Politik, stark an Anekdoten und kleinen Geschichten, und mit erzählerischem Können ins Bewusstsein einer heutigen Leserschaft zurück. Dieses „Café Größenwahn“ betritt man gerne – wenn auch nur als Zaungast des 21. Jahrhunderts.

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