Literatur

„Der schlimmste Tag des Landes seit 1948“ – Der israelische Historiker Tom Segev im Stuttgarter Literaturhaus

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AUTOR/IN
Silke Arning

Er hat es möglich gemacht: trotz bestehender Reiseschwierigkeit saß der Historiker und Autor Tom Segev auf der Bühne des Stuttgarter Literaturhauses, um im Rahmen der Jüdischen Kulturwochen über sein aktuelles Buch „Jerusalem Ecke Berlin“ zu sprechen. Im voll besetzten Saal berichtete er einem aufmerksamen Publikum aber auch von seiner Einschätzung des aktuellen Nahostkrieges.

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Parallelen mit dem Unabhängigkeitskrieg Israels 1948

Gespannte Erwartung im voll besetzten Saal des Stuttgarter Literaturhauses. Es geht eigentlich um Tom Segevs aktuelles Buch. Doch natürlich hofften alle, etwas aus erster Hand von diesem profilierten Historiker über die Befindlichkeit in Israel zu erfahren und seine Einschätzung des Nahost-Krieges zu hören. Tom Segev ließ sich gar nicht erst bitten und kam gleich zur Sache. Er sieht in dem, was gerade passiert, Parallelen zum Unabhängigkeitskrieg Israels 1948.

Der Angriff auf Israel am 7. Oktober markierte den schlimmsten Tag des Landes seit 1948. Die am Tatort gefundenen grausamen Beweise, darunter Überreste lebendig verbrannter Babys, weckten Erinnerungen an den Holocaust. Und die folgenden Ergebnisse des Krieges, die damit angefangen haben, markieren vielleicht eine zweite Nakba.

Eine zweite Nakba. Mit der arabischen Bezeichnung erinnerte Tom Segev an die – wie er es nannte – „nationale Tragödie der Palästinenser“, die ihren Ursprung in 1948 habe. Hunderttausende palästinensische Araber wurden damals von der israelischen Armee aus ihrer Heimat vertrieben.

Ernüchternde Sicht auf die Lage im Nahen Osten

Tom Segev ist keiner, der die palästinensische Situation einfach ausblendet, sondern jemand, der in der Vergangenheit auch auf Menschenrechtsverletzungen durch die israelische Politik hingewiesen hat. Sein Blick auf die Lage im Nahen Osten ist mehr als ernüchternd.

Immer wieder komme ihm in diesen Tagen Israels damaliger, erster Ministerpräsident David Ben-Gurion in den Sinn, der den Nahost-Konflikt auf den Nenner gebracht habe: Diesen Konflikt könne man nicht lösen, nur managen. Einen Satz, den Tom Segev mit Blick auf die Regierung Netanjahus so kommentierte:

Ich glaube, dass in den letzten hundert Jahren allerdings, wo dieser Konflikt gemanagt war, er noch nie so schlecht, so katastrophal gemanagt war wie unter Netanjahu.

In Israel habe sich aktuell eine Diskussion unter Historikern und Publizisten entwickelt, wie der Angriff, wie das Massaker der Hamas, zu bewerten sei. Es gebe viele Leute, die den 7. Oktober als Holocausttag bezeichneten. Das werfe Fragen nach der Bedeutung des Holocaust heute auf.

Die doppelte Staatsbürgerschaft kann vielleicht als lebenswichtig gelten

Wie diese traumatische Erfahrung des Völkermords bis heute nachwirkt, verdeutlichte Tom Segev an einem Phänomen, das jetzt ebenfalls im Zusammenhang mit der Geiselnahme durch die Hamas sichtbar geworden sei. Es gebe eine Million Israelis, die sich in den letzten zwei Jahren ganz legal europäische Pässe besorgt hätten: polnische, portugiesische, auch etwa eine Viertel Million deutsche Pässe. Nach dem Motto: man könne ja nie wissen.

Das sei interessant, weil das ein tiefes Unsicherheitsgefühl in die Zukunft Israels berge und auch zurückgehe auf die Zeit des Holocaust, sagt, Segev, „und Sie werden es nicht glauben: aber unter den 240 Geiseln, die die Hamas jetzt hat, sind nicht wenige Israelis, die europäische Pässe haben. Auf einmal ist diese doppelte Staatsbürgerschaft fast lebenswichtig, kann vielleicht als lebenswichtig gelten.“

Seine Eltern waren nie in Israel angekommen

Auch wenn der aktuelle Nahostkonflikt am Abend Thema war, dominierte er das Gespräch auf der Bühne keinesfalls. Tom Segev erzählte viel und kurzweilig, selbst von durchaus heiklen Themen. Zum Beispiel, dass sein Vater, der Kriegsheld, gar nicht als Kriegsheld gestorben sei, wie er erst vor zehn Jahren erfahren habe. Dass seine Eltern nie in Israel angekommen seien und eigentlich immer wieder zurück nach Deutschland wollten.

Dass er 1966 in Berlin miterleben musste, wie eine begeisterte Menge den eben entlassenen NS-Kriegsverbrechern Albert Speer und Baldur von Schirach zujubelte: „Für mich war das ein erschütterndes Erlebnis. Neben mir stand eine alte Frau und sagte: ach, das hätte unser Adolf noch sehen müssen…“

Trotzdem – so das Fazit von Tom Segev: Deutschland habe aus dieser fürchterlichen Vergangenheit gelernt und sei ein demokratischer Rechtsstaat geworden. Das beeindrucke ihn bis heute. 

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Mai 1947 David Ben-Gurion fordert vor den UN jüdischen Staat

Mai 1947 | Die Situation in Palästina hatte Großbritannien 1947 längst nicht mehr im Griff. Die gewaltsamen Spannungen zwischen der arabischen und jüdischen Bevölkerung schienen unlösbar. Beide Seiten wollten Unabhängigkeit, beide aber zu ihren eigenen Bedingungen.
Im April 1947 beantragte Großbritannien schließlich, dass sich die UN (Vereinte Nationen) damit befassen mögen. Die UN-Vollversammlung kam Ende April 1947 zusammen, um zwei Wochen lang über eine Lösung für die Palästinafrage zu beraten. Gegen Ende kam auch David Ben-Gurion (1886 - 1973) dazu, der Kopf der Jewish Agency und damit de facto Sprecher der Juden in Palästina.
Ben-Gurion hatte eine durchaus militante Vergangenheit, sah aber schließlich Chancen für eine friedliche Koexistenz eines jüdischen Staats zwischen freien arabischen Nachbarn, mit denen er kooperieren würde. Dafür warb Ben-Gurion auch vor den UN. Ziel sei eine jüdisch-arabische Allianz, in der alle alle – wie er sie zusammenfasste – semitischen Staaten, also der jüdische und die arabischen Staaten, davon wirtschaftlich und sozial profitieren und wirklich unabhängig würden.
Am letzten Tag der zweiwöchigen Sitzung, am 15. Mai 1947, beschloss die UN-Vollversammlung schließlich die Einrichtung eines Sonderausschusses zur Lösung der Palästinafrage. Dieser Ausschuss entwarf im weiteren Verlauf den Teilungsplan, den die Vereinten Nationen im November 1947 annahmen.
Am 14. Mai 1948 endete Großbritanniens Mandat über Palästina. Noch am selben Tag erklärte David Ben-Gurion die israelische Unabhängigkeit.

29.11.1947 UN-Vollversammlung stimmt für Aufteilung Palästinas

29.11.1947 | Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte Palästina zum Osmanischen Reich. Das Osmanische Reich gehörte aber zu den Kriegsverlierern und hat sich in der Folge aufgelöst. Palästina wurde Mandatsgebiet von Großbritannien. In dieser Zeit und schon vorher wanderten viele Juden nach Palästina aus. Großbritannien hatte den Juden schließlich schon 1917 versprochen, in Palästina eine Heimstätte für das jüdische Volk zu schaffen. Das war die berühmte Balfour-Erklärung.
Die Einwanderung führte allerdings zu schweren Konflikten mit den ebenfalls dort lebenden Arabern. Großbritannien war mit den wachsenden Spannungen überfordert und stand auch unter Druck, Palästina in die Unabhängigkeit zu entlassen. Aber die Bevölkerung Palästinas bestand zu diesem Zeitpunkt aus Juden und Arabern und beide hatten sehr unterschiedliche Vorstellungen von der Zukunft des Landes.
Also übergab Großbritannien das Problem an die Vereinten Nationen. Die verabschiedeten einen Teilungsplan. Palästina wurde auf dem Papier in einen jüdischen und einen palästinensischen Staat geteilt. In diesem Teilungsplan zerfiel übrigens auch der jüdische Staat in einen nördlichen und einen südlichen Teil, Jerusalem gehörte in diesem Plan nicht zum jüdischen Staatsgebiet, sondern sollte unter internationale Kontrolle gestellt werden.
Über diesen Teilungsplan stimmte die UN-Vollversammlung am 29. November 1947 ab.
Mit 33 Ja- zu 13 Nein-Stimmen bei 10 Enthaltungen stimmte die Mehrheit für die Aufteilung des Landes. Großbritannien hat sich als ehemalige Mandatsmacht enthalten. Ein halbes Jahr später erklärt Israel seine Unabhängigkeit.

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