Psychologe über gefährliche Reaktion

Deutsche ziehen sich ins Private zurück

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Frank Jenschar
Frank Jenschar (Foto: SWR)
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Laut einer aktuellen Studie ziehen sich die Deutschen als Reaktion auf Krisen wie dem Ukrainekrieg und dem Klimawandel immer mehr ins Private zurück. Psychologe Stephan Grünwald hält das für gefährlich.

Die Ergebnisse der Befragung des Rheingold Instituts zeigen, dass viele Deutsche vor der Realität fliehen. Statt sich mit den Nachrichten und der Außenwelt zu beschäftigen, ziehen sich viele in ihr Zuhause zurück, das sie sich liebevoll zur Wohlfühl-Oase ausbauen. So gaben 93 Prozent der Befragten an, es sich daheim so schön wie möglich zu machen.

Im SWR1 Interview schaut Psychologe Stephan Grünwald, Gründer des Rheingold Instituts, besorgt auf die Studienergebnisse.

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SWR1: Kann man sagen, das ist so eine Art Flucht nach innen, vor der "bösen" Welt da draußen?

Stephan Grünewald: Die Menschen teilen so die eigene Welt auf, in die, wo man noch Überschaubarkeit hat, wo man Selbstwirksamkeit spürt, und die wirklich bedrohliche Welt da draußen. Zwischen diesen beiden Welten wird ein Verdrängungsvorhang gespannt und vieles von dem, was beunruhigend ist, wie der Krieg in der Ukraine, viele Probleme rundum Migration oder Corona, all das wird verdrängt. [...] Das ist ein Selbstschutz.

Seit Corona wird mit anderen Meinungen anders umgegangen

In der Krise sind alle gefragt und je mehr Mitwirkung da ist, desto erfolgreicher sind die Krisen auch behandelbar.

SWR1: Warum ist das so gefährlich?

Grünewald: Weil eine lebendige Demokratie natürlich darauf angewiesen ist, dass wir uns für die Welt interessieren, dass wir uns mit dem Bedrohlichen auseinandersetzen. Es ist ja gut, wenn man zu Hause Kraft tankt, wenn man die Wohlfühloase nutzt, um wieder gute Laune zu bekommen. Das gefährliche ist aber, wenn man sich in einer resignativ passiven Haltung zurückzieht und hofft, dass die Erlösung von außen kommt. Ich glaube, in der Krise sind alle gefragt und je mehr Mitwirkung da ist, desto erfolgreicher sind die Krisen auch behandelbar.

SWR1: Aber warum ist das so schlimm?

Grünewald: Schlimm würde ich so nicht sagen. Aber es gibt verschiedene Dinge, die mir als Psychologe Sorgen machen. Einmal ist es eine Zuversichtsquelle, dass man im Freundeskreis unter Gleichgesinnten das Gefühl hat, hier finde ich Zuspruch und Geborgenheit. Aber wir merken auch, die Freundeskreise werden hermetischer. Es bildet sich eine Wagenburgmentalität [Skepsis gegenüber dem Fremden, Anm. d. Red.]. Seit Corona werden viele Menschen, die anderer Meinung sind, die anstrengender Meinung sind, herausgeschmissen aus den Kreisen. Und das ist natürlich Gift für eine Demokratie, die auf Toleranz, die auf Streit, die auf Austausch aufbaut.

Eine Frau steht in einer Wohnung und schaut durch ein Fenster nach draußen. (Foto: picture-alliance / Reportdienste, dpa Bildfunk, picture alliance/dpa | Fabian Sommer)
Eine Frau steht in einer Wohnung und schaut durch ein Fenster nach draußen.

SWR1: Es ist ja ein Gefühl, das einen dazu bringt, sich zurückzuziehen. Was tut man dagegen?

Grünewald: Es ist wichtig, Kraft zu schöpfen, im Privaten etwas aufzubauen, wo man Selbstwirksamkeit verspürt. Aber es ist auch wichtig, nach draußen zu gucken. Viele beschreiben uns auch, dass sie kaum noch Nachrichten sehen. Ich glaube, es ist wichtig, die Kraft, die man im Privaten erfährt, auch mutig zu nutzen, um die Welt da draußen zu beobachten. Es ist wichtig, dass wir auch wieder zu einer Streitkultur zurückfinden. Streit ist anstrengend, aber eröffnet uns neue Perspektiven. Und wir brauchen die Zuversicht auch für das Land. Vieles ist zwar im Argen, aber ohne die Hoffnung, ohne den Glauben, dass wir etwas bewegen können, erlahmen auch die Kräfte.

Eindeutige Vorgaben von der Politik sind wichtig

SWR1: Man sagt im Volksmund "der Fisch stinkt vom Kopf". Wie wichtig ist es, dass die politische Führung da entsprechende Vorgaben macht?

Grünewald: Ich glaube, die Menschen erwarten von der Politik, dass es Etappenziele und klare Visionen gibt, die eine Orientierung geben. Stattdessen erleben sie aber eher ein Klein-Klein. Was immer wieder in den Tiefeninterviews [der Studie] moniert wurde, ist der ständige Streit. Wenn man das Gefühl hat, in der Krise sind die Autoritäten uneins und kommen nicht zu einer gemeinsamen Conclusio, dann destabilisiert das eher. Das erklärt auch die enorm niedrigen Vertrauenswerte, die wir in unserer Studie gegenüber der Politik konstatieren können.

SWR1: Das heißt, die politische Führung muss sich dessen bewusst sein und kann selber etwas dafür tun, dass sich diese Resignation in der Bevölkerung drehen könnte. Kann man so weit gehen?

Grünewald: In dem Moment, wo wie im letzten Jahr in der Energiekrise klare Ziele vorgegeben werden und jeder das Gefühl hat, er kann mitmachen, zum Beispiel beim Energiesparen. Dann entsteht so ein kollektiver Versuch, wirklich etwas zu bewegen. Und dann haben wir im letzten Jahr auch eine enorme Erfolgsbilanz mit 21 Prozent Energie-Ersparnis hingelegt. Also es braucht diese klaren Ziele. Es braucht das Gefühl des Einzelnen, hier kann ich sinnvoll mitwirken. Es braucht aber auch eine politische Geschlossenheit, sonst verliert die Politik an orientierungsgebender Kraft.

Das Gespräch führte SWR1 Moderator Frank Jenschar.

Weitere Informationen zur Studie des Rheingold Instituts finden Sie auf rheingold-marktforschung.de

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