Nachrichten sind dominiert von Virologen-Sprech
Der R-Wert liegt über 1! Noch vor wenigen Monaten hätte kaum jemand gewusst, was das bedeutet. Oder was sich hinter dem Wort Aerosol verbirgt. Dieser Frühling fühlte sich an wie ein Intensiv-Kurs Virologie. Und das Bedürfnis nach wissenschaftlich stichhaltigen Informationen über das neuartige Coronavirus in der Öffentlichkeit war kaum zu stillen.
Corona-Forscher werden von Medienanfragen überrollt
Gleichzeitig gibt es mittlerweile eine Art Ermüdung: Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen werden angefeindet und für politische Entscheidungen verantwortlich gemacht. Manchmal wirkt es, als würden Forscher und Medien sich einfach nicht verstehen. So hat es auch Hartmut Hengel von der Uniklinik Freiburg erlebt. Er ist Präsident der deutschen Gesellschaft für Virologie.
„Ich persönlich bin jeden Tag angefragt worden, oft von mehreren Medien. Und dann ist es so, dass wir durch die Arbeit, die wir ja leisten müssen, extrem gefordert sind. Wir haben sicher noch nie so viel gearbeitet wie in den letzten Monaten, unsere Ressourcen sind nicht ausreichend, von daher sind wir oft gar nicht in der Lage gewesen, auf die Medienanfragen zu antworten.“

Die Öffentlichkeit wünscht sich klare Aussagen der Wissenschaftler
Das Tempo in der Forschung ist hoch. Gleichzeitig erwartet die Bevölkerung klare Aussagen. Da ist der Konflikt vorprogrammiert, sagt Annette Leßmöllmann, Professorin für Wissenschaftskommunikation am Karlsruher Institut für Technologie.
„Eine ganz besondere Herausforderung ist, dass man in der Bevölkerung nicht nur Ergebnisse erwartet, sondern Ergebnisse, auf die man Entscheidungen fußen kann. Sei es im Alltag - Maske auf, Maske nicht auf - und sei es, welche politischen Entscheidungen werden da eigentlich getroffen. Das heißt, die Wissenschaft ist wahnsinnig gefordert, Gewissheiten zu liefern. Und das ist eigentlich gar nicht ihr Job.“

Wissenschaft wird durch Kontroversen betrieben
Der Job der Wissenschaftler sei vielmehr, sich zu streiten. Gewissheiten gebe es fast nie und wenn dann nicht in so einer Geschwindigkeit, das sieht auch der Virologe Hengel so.
Die Wissenschaft ist etwas, was durch Kontroversen betrieben wird. Unterschiedliche Meinungen sind wichtig und wertvoll, sie müssen verfolgt werden. Das ist ganz normal, das ist Wissenschaft. Das darf die Öffentlichkeit eigentlich nicht irritieren. Auch nicht die Politik.

Medien und Forschung sprechen oft nicht dieselbe Sprache
Doch in der Berichterstattung über wissenschaftliche Themen stoßen Welten aufeinander, Medien und Forschung sprechen nicht immer dieselbe Sprache.
"Es ist ein grundsätzliches Problem, weil Wissenschaft und Medien einfach nach anderen Grundprinzipien arbeiten, es sind unterschiedliche soziale Systeme. Wissenschaft sucht nach Ergebnissen und vielleicht kann man sagen, nach der Wahrheit. Journalismus soll natürlich wahr berichten, muss aber aktuell sein und er braucht Aufmerksamkeit.“
Konflikte sind in der Berichterstattung beliebt
Und Aufmerksamkeit bekommt man nicht unbedingt durch Abwägungen, Konflikte eignen sich viel besser. Ein Beispiel dafür ist die Berichterstattung der Bildzeitung über Christian Drosten. Der leitende Virologe der Berliner Charité hatte eine Studie zur Virenlast von Kindern auf einem Online-Server vorveröffentlicht und damit zur Diskussion gestellt. Kollegen kritisierten die statistische Auswertung der Daten. Die Bild-Zeitung titelte daraufhin, die Studie sei grob falsch und müsse zurückgezogen werden. Drosten antwortete auf Twitter, es ging hin und her.

Für Annette Leßmöllmann passt das in die aktuelle Situation. Denn gerade in Covid-19-Zeiten sei der Druck eben sehr hoch. Von der Bild-Zeitung wurde ein ganz normaler Konflikt zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern medial zum Streit aufgeblasen.
Unrealistische Versprechen verwirren die Öffentlichkeit
Doch nicht nur die sensationsheischende Berichterstattung sorgt für Verwirrung in der Öffentlichkeit. Unrealistische Versprechungen von Impfstoffentwicklern wecken falsche Hoffnungen, Studien werden zurück gezogen oder liefern kaum verwertbare Ergebnisse.

Leidet die Sorgfalt der Wissenschaft unter dem Zeitdruck?
Internationale Experten befürchten, dass in der Pandemie die Sorgfalt in der Wissenschaft zugunsten der Geschwindigkeit leidet, die Forschungs-Standards sinken. Jörg Meerpohl ist Professor für Evidenz in der Medizin an der Uniklinik Freiburg und Direktor von Cochrane Deutschland. Auch er sieht die Gefahr, dass die Standards in der Wissenschafts aktuell nicht immer eingehalten werden.
"Es ist natürlich schon so, dass auf Grund des wahrgenommenen Zeitdrucks, den man sich vielleicht selber macht oder auch durch die Öffentlichkeit in der Wissenschaft wahrgenommen wird, man überlegt, wo kann man Abkürzungen gehen, um schneller zu Ergebnissen zu kommen.“

Dann wird vor Beginn der Studie zum Beispiel nicht so sorgfältig recherchiert, die Absprachen mit Kooperationspartnern leiden oder die Qualitätskontrollen greifen nicht mehr wie normal.
Kritischer Blick auf die Corona-Forschung ist notwendig
Meerpohl geht davon aus, dass wir im Nachhinein durchaus kritisch auf die aktuelle internationale Forschung schauen werden.
„Weil wir eben doch viele kleine Studien sehen, die möglicherweise nie abgeschlossen werden können, die Ergebnisse produziert haben, vorläufige Ergebnisse, die uns vielleicht auch mal an der ein oder anderen Stelle in die Irre geführt haben. Wir haben Studien gesehen, die schon zurückgezogen wurden, weil die Ergebnisse nicht haltbar sind.“
Covid-19 Forschung sollte besser kommuniziert werden
Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sollten in der aktuellen Lage ihre Forschung und deren Probleme noch besser als sonst erklären. Doch das können nicht alle leisten, sagt die Professorin für Wissenschaftskommunikation Leßmöllmann:
„Die Frage ist: Wie geübt ist eine Forscherin, eine Virologin jetzt in den Medien aufzutreten, wie viel weiß sie darüber, wie die Öffentlichkeit manchmal zornig reagiert?

Dafür brauche es zum Beispiel Schulungen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler müssten daran arbeiten, wie sie ihr Wissen und ihre Ergebnisse präsentieren. Und die Öffentlichkeit muss lernen, dass die Forschung ein Prozess ist, das Ergebnisse jederzeit revidiert werden können. Und das Konflikte dabei ganz normal sind.