Älteste Festung der Menschheit: Geomagnetische Untersuchungen zeigen: Jäger und Sammler bauten befestigte Siedlungen schon in der Steinzeit. (Foto: Sventlana Lips)

Neues aus der Steinzeit

Jäger und Sammler errichteten die älteste Festung der Menschheit

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Kristina Koch

Schon vor 8.000 Jahren lebten Jäger und Sammler zusammen in festen Siedlungen. Das hat nun ein deutsch-russisches Team herausgefunden. Sie lieferten Belege für die älteste befestigte Siedlung der Welt. Diese Entdeckung sorgt für eine Neubewertung der steinzeitlichen Gesellschaften.

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Nach allgemeinem Lehrverständnis führten Jäger-Sammler-Gruppen in der Steinzeit zunächst ein nomadisches Leben, bis die Einführung der Landwirtschaft sie dazu brachte, sesshaft zu werden. Die älteste befestigte Siedlung der Welt in Sibirien, errichtet vor etwa 8.000 Jahren von Jägern und Sammlern, stellt nun möglicherweise eine Neubewertung steinzeitlicher Gesellschaften dar.

Die Neuinterpretation der Steinzeit-Gesellschaften

Die Vorstellung, Jäger und Sammler würden sich hinter Festungspalisaden verschanzen, um ihr Haus und ihren Besitz schützen, war in der Welt der Archäologie bis vor Kurzem noch ein Widerspruch. Ein deutsch-russisches Team liefert nun Belege für die älteste befestigte Siedlung der Welt.

Amnya I wurde vor etwa 8000 Jahren von Jägern und Sammlern errichtet. Ebenso überraschend ist ihr Standort: Die Fundstätte liegt in der westsibirischen Taiga, dem größten Nadelwald der Welt. Bis heute ist die Region kaum besiedelt. Auch deshalb, weil die Böden so nährstoffarm sind, dass Landwirtschaft nahezu unmöglich ist.

Aus einem Grubenschnitt werden Proben entnommen für die Datierung. (Foto: Tanja Schreiber)
Ein Helfer bei der Grabung entnimmt Proben aus einem Grubenschnitt, um sie datieren zu lassen. Mit der Radiokarbonanalyse auch C14-Methode genannt, kann das Alter von Funden aller Art ermittelt und so mehr über die Geschichte der Menschheit herausgefunden werden.

Sensationelle Fundstätte: Jäger und Sammler in der Taiga

Diese Entdeckung in der Taiga Westsibiriens hat Sensationscharakter. Die Forschungsergebnisse des deutsch-russischen Archäologinnen-Teams zeigen, dass die Bewohner vor 8.000 Jahren bereits komplexe Verteidigungsanlagen um ihre Siedlungen errichteten. Damit wird die Annahme widerlegt, dass befestigte Siedlungen mit monumentaler Architektur mit der Entstehung bäuerlicher Gesellschaften in Verbindung stehen.

Die leitende Archäologin Henny Piezonka von der Freien Universität Berlin betrachtet die in der Forschung etablierte Meinung über die Entwicklung der menschlichen Gesellschaftsstufen als problematisch.

Unsere Erkenntnisse torpedieren dieses Narrativ. Wir zeigen, dass Jäger-Sammler-Gesellschaften sozial und ökonomisch sehr komplex gewesen sein können. Und zwar so komplex, dass sie substantielle Festungen gebaut haben.

Die Funde in Sibirien zeigen, dass steinzeitliche Jäger und Sammler bereits komplexe Strukturen errichteten, lange bevor Ackerbau und Viehzucht als Grundlage komplexer Gesellschaften galten. Das wirft die Frage auf, warum diese steinzeitlichen Gesellschaften solche fortschrittlichen Verteidigungsanlagen entwickelten.

Das Grabungsteam und ortsansässige indigene Partner aus der Gruppe der Chanten stehen vor einem Grabungschnitt in Kayukovo. Im hellen Sand zeichnen sich dunkel die Reste eines verbrannten steinzeitlichen Hauses ab.  (Foto: Sventlana Lips)
Das Grabungsteam und ortsansässige indigene Partner aus der Gruppe der Chanten stehen vor einem Grabungschnitt in Kayukovo. Im hellen Sand zeichnen sich dunkel die Reste eines verbrannten steinzeitlichen Hauses ab.

Sibirien als Innovationszentrum von Jägern und Sammlern

Neben dem Festungsbau lassen viele Funde auf einen echten Innovationsgeist der Taiga-Gesellschaft schließen. So hat beispielsweise die Keramikherstellung den Bewohnern viele neue Möglichkeiten eröffnet. Eine Analyse der kunstvoll verzierten Töpferwaren gibt Aufschluss über deren Inhalt. Die neuen Konservierungsmöglichkeiten von Lebensmitteln wie kalorienreichem Fischöl und Fleisch, haben wahrscheinlich zu einem Bevölkerungswachstum geführt.

Der prähistorische Lebensstil basierte auf den reichhaltigen Ressourcen der Taiga. Dank des dichten Gewässernetzes gab es saisonal reichlich Fisch, während im Wald Elche, Rentiere und Auerhähne gejagt werden konnten. Diese Ressourcen bildeten eine sichere, vorhersehbare Grundlage für das Überleben von Jägern und Sammlern. Durch eine effiziente Vorratswirtschaft konnten sie auch in Zeiten der Knappheit von den saisonalen Überschüssen profitieren.

Wieso erbauten Menschen in der sibirischen Taiga schon in der Steinzeit Festungsanlagen?  

Die Ursachen für den plötzlichen Schub der kulturellen und sozialen Entwicklung vor 8.000 Jahren sind noch unklar. Die befestigte Siedlung am Fluss Amnya in der westsibirischen Taiga ist das älteste Zeugnis der Welt. Warum diese steinzeitlichen Gesellschaften schon vor 8.000 Jahren solche fortschrittlichen Verteidigungsanlagen entwickelten, bleibt ein Rätsel. Die Forscherinnen aus Deutschland und Russland halten verschiedene Szenarien zur Entstehung der Festungen für möglich.

Steinzeitjäger im Wald der Nacheiszeit auf Jagd, lebensnahe prähistorische Darstellung im Parc de Prehistoire in Rochefort-en Terre in der Bretagne  (Foto: IMAGO, Harald Lange)
So könnte ein Mitglied einer Jäger und Sammler Gesellschaft ausgesehen haben. Ihre Speere statteten sie mit Spitzen aus Knochensplitter oder Stein aus.

Innovation und Überschüsse: Der Innovationsgeist der Taiga-Gesellschaft könnte zur Anhäufung von Überschüssen geführt haben. Neue Fang-, Verarbeitungs- und Bevorratungstechnologien wie Gefäßkeramik könnten Wohlstand gebracht haben. Die wirtschaftliche Struktur und soziale Ungleichheit könnten Konflikte geschürt haben, was den Bau befestigter Siedlungen erforderlich machte.

Einwanderung: Möglicherweise brachten eingewanderte Menschen aus den südlichen Steppengebieten das Wissen um Keramikproduktion und Befestigungstechniken mit. Durch den Bau befestigter Posten könnten diese Gruppen sich das dünn besiedelte Land im Norden angeeignet haben.

Kommunikationsnetzwerke: Eine andere mögliche Erklärung ist, dass die Festungen als Knotenpunkte in regionalen Kommunikationsnetzwerken dienten. Diese Siedlungen könnten Orte des Handels und ritueller Versammlungen gewesen sein, was sie zu beliebten Zielen für Plünderungen und gewaltsame Überfälle machte.

Klimaveränderungen: Die Entstehung der Festungen in Westsibirien könnte mit einem globalen Klimaereignis in Zusammenhang stehen. „Es gibt fast genau zu der Zeit einen Klimaeinbruch, etwa 50 bis 100 Jahre vor der Amnya-Siedlung. Das sogenannte 8.2 Event, also eine kurze Kältephase von 150 Jahren, die vor 8.200 Jahren einsetzt. Möglicherweise hat das dazu geführt, dass die Menschen plötzlich territorial werden und ihre Siedlungen verteidigen mussten“, schildert die leitende Archäologin Prof. Dr. Henny Piezonka von der FU Berlin. 

Luftaufnahme des Geländes: Auf einem Vorsprung in der westsibirischen Taiga waren einst die steinzeitlichen Siedlungen Amnya I und Amnya II. (Foto: Henny Piezonka)
Luftaufnahme des dicht bewaldeten Geländes am Fluss Amnya: Auf einem Vorsprung in der westsibirischen Taiga waren einst die steinzeitlichen Siedlungen Amnya I und Amnya II.

Zwang ein globales Klimaereignis Jäger und Sammler zum Errichten von Festungen?

Das globale Klimaereignis wäre aktuell der beste Anhaltspunkt, um zu erforschen, wieso der Festungsbau vor 8.000 Jahren in Sibirien begann. Henny Piezonka, die leitende Archäologin des Projekts, betont, dass die Zusammenhänge mit den Klimaveränderungen geklärt werden müssen.

Das Grundproblem ist, dass es aus der Region fast keine ausgewerteten Klimaarchive gibt. Gemeinsam mit unseren russischen Kolleginnen hätten wir genau das die nächsten Jahre erforscht, wenn der russische Angriffskrieg auf die Ukraine nicht passiert wäre.

Der Beginn einer Ära der Festungen während der Steinzeit

Befestigte Siedlungen um die Zeit 6.000 v.Chr. sind ein weltweit einmaliges Phänomen. Verblüffend ist auch die Tatsache, dass die örtlichen Jäger und Sammler über viele Zeitalter hinweg Befestigungen beibehalten haben, bis hin zur Zeit der russischen Eroberung Sibiriens im frühen 17. Jahrhundert.

Die Siedlung Amnya markiert den Beginn einer Ära der Festungen. Interessanterweise sieht es auf der europäischen Seite der Taiga anders aus. Für die leitende Archäologin Henny Piezonka ist das eins der großen Rätsel um die Fundstätte.

Was ich sehr überraschend finde und mir überhaupt nicht erklären kann: Warum in Westsibirien um 6.000 diese Festungen auftauchen und dann die gesamte Zeit bis in die Neuzeit immer wieder Siedlungen befestigt werden. Während es auf der anderen Seite des Urals, im europäischen Teil Russlands, wo Landschaft und Ressourcen fast identisch sind, keine einzige gibt.

Westlich des Urals werden erst in der Eisenzeit vor etwa 2.000 Jahren Siedlungen befestigt. Wieso auf der anderen Seite Jahrtausende lang Siedlungen befestigt wurde, ist zum aktuellen Stand der Forschung noch unklar. 

Paläobotanische Untersuchungen in der westsibirischen Taiga (Foto: Svetlana Lips)
Durch paläobotanische Untersuchungen erfahren Archäolog*innen viel über die steinzeitlichen Lebensweisen in der westsibirischen Taiga.

Russischer Angriffskrieg stoppt Forschungskooperatoion 

Zur Klärung der vielen offenen Fragen ist weitere Forschungsarbeit nötig. Die politische Situation mit Russland lässt dies aktuell nicht zu. Die Forscherinnen aus Deutschland und Russland hoffen in Zukunft gemeinsam weiter forschen zu können, um die Rätsel der steinzeitlichen Festung in der sibirischen Taiga zu ergründen.  

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Zurück in die Steinzeit | Hintergrund

Als sich der Mensch vor elf- bis zwölftausend Jahren vom Jäger und Sammler zum Ackerbauern und Viehzüchter wandelte, leitete er eine neue Epoche seiner Geschichte ein. Im Vorderen Orient, einem Gebiet zwischen Persischem Golf, Zweistromland und Totem Meer lernten die Menschen den systematischen Anbau von Wildgräsern, aus denen sie im Verlauf einiger Jahrhunderte ertragreichere Getreidesorten züchteten. Wölfe, wilde Ziegen, Schafe, Schweine, Rinder und Pferde wurden an den Menschen gewöhnt und so lange durch Auswahl verändert, bis sie sich als Haustiere eigneten. Diese neue Form der Sicherung des Überlebens und der Nahrungsmittelproduktion breitete sich danach allmählich bis nach Mitteleuropa aus. Kulturpflanzen und Nutztiere waren auf die Obhut des Menschen angewiesen, sonst hätten sie nicht überlebt. Die Bauern wurden rasch abhängig von der Sicherheit, die ihnen diese Nahrungsmittel boten. Durch Rodung der Wälder für Weidewirtschaft und Ackerbau begannen die Menschen, in die Natur einzugreifen und sie immer nachhaltiger zu verändern. Der australische Archäologe Gordon Childe nannte diesen Wandel in den 1920er Jahren "Neolithische Revolution", womit er die tief greifenden Änderungen in der menschlichen Lebensweise umschreiben wollte. Heute wissen wir, dass der ganze Prozess mehr als 3000 Jahre in Anspruch nahm, weswegen der Begriff „Revolution“ heute dafür kaum noch verwendet wird.

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