Mit Verstand zu einem guten Leben
Die Anhänger der stoischen Philosophie, die Stoiker, unterscheiden sich von anderen antiken Philosophenschulen. Die damalige Bewegung philosophischer Skeptiker zieht alles in Zweifel: Für sie gibt es keinerlei gesichertes Wissen, alles muss infrage gestellt werden. Die Stoiker dachten anders.
Höchste Tugend: Wissen statt Meinung
Dieses „Wissen“ ist für die Stoiker aber kein Sachwissen, wie wir es heute meist verstehen. Wissen ist vielmehr der Gegensatz zu Meinung. Meinungen über das Leben und die Welt kann jeder haben. Sie beruhen oft auf Emotionen, irrationalen Annahmen, Vorurteilen oder Scheuklappendenken.
Der Wissende aber folgt seinem Verstand, denkt eigenständig. Er hört nicht auf die Menge. Er prüft jeden Gedanken genau, berücksichtigt möglichst viele Zusammenhänge, Pro und Contra, wägt ab und kommt schließlich zu einem vernünftigen Ergebnis. Im stoischen Sinn ist Wissen das Ergebnis eigenständigen Denkens und somit die höchste Tugend.
Die zwei großen Schritte zur Gelassenheit
Gelassenheit war ein wichtiges Ziel der antiken stoischen Philosophie. Stoiker wie Mark Aurel, geboren am 26. April 121 in Rom, wollen sich zu Gelassenheit und innerer Unabhängigkeit erziehen. Dafür ist es zunächst wichtig, im Sinne des „Wissens“ jede Situation zu prüfen.
Den zweiten großen Schritt zu Gelassenheit und innerer Unabhängigkeit beschreibt die stoische „Theorie der Emotionen“. Bis dahin gingen die meisten Philosophen davon aus, dass sich Gefühle von selbst einstellen. Bestimmte Situationen „machen“ uns traurig, enttäuschen oder freuen uns – man ist dem hilflos ausgeliefert.
Die Stoiker dagegen sagen, dass wir für unsere Gefühle selbst verantwortlich sind. Gefühle würden erst durch unsere Bewertungen von Situationen entstehen. Es gilt im Leben also zu unterscheiden, was man beeinflussen kann und was nicht. Man muss erkennen, dass man selbst Herr über seine Gedanken und Gefühle ist. Mit dieser Freiheit und Selbstverantwortung erhält man einen neuen Blick auf die Welt und das eigene Leben und lernt, mit schwierigen Situationen besser umzugehen – gelassen zu werden.
Pandemie, Missernten, Krieg: Leben in schwierigen Zeiten
Mark Aurels Herrschaft stand unter keinem guten Stern. Das Römische Reich leidet unter Missernten. Dazu herrscht in Mark Aurels Amtszeit fast dauernd Krieg. Allerdings „Verteidigungskriege“, wie der Philologe Gernot Krapinger betont.
Im Feldlager fragt Mark Aurel sich, wie man auch in schwierigen Zeiten Stärkung findet, unabhängig denkt und sich für die Gemeinschaft einsetzt. Er überlegt, wie ein gutes Leben zu erreichen sei – egal ob man Kaiser ist oder zu den sogenannten „kleinen Leuten“ zählt. Jeder will seinen Alltag und das soziale Leben möglichst gut bestehen.
Während ruhiger Kriegs-Phasen schreibt er die „Selbstbetrachtungen“ im Feldlager. Die „Selbstbetrachtungen“ sind aber kein Tagebuch, sondern eine Art Übungsbuch. Der grüblerische Kaiser notiert für sich Gedanken der überlieferten stoischen Philosophie. Er liest sie immer wieder durch, um sie sich einzuprägen und gelassener zu werden.
Zu den Kriegen und Missernten kommt um 170 n. Chr. eine verheerende Pandemie hinzu. Die Pandemie wütet mit kurzen Unterbrechungen rund 20 Jahre lang und Millionen Menschen sterben. Sie wird heute als „Antoninische Pest“ bezeichnet. Experten schließen aufgrund der Symptome aber eher auf Pocken als auf eine Pest, so Gernot Krapinger.
Die moderne Seite der Stoiker
Seit einigen Jahren werden Mark Aurel und die Stoiker auch abseits philosophischer Seminare gelesen. Vor allem in England und den USA gibt es die Bewegung „Modern Stoicism“. Es gibt Online-Foren, in denen Mitglieder sich gegenseitig Fragen stellen, wie sie mit bestimmten Situationen umgehen sollen. Alles auf Basis der stoischen Philosophie.
Die Stoiker haben es inzwischen sogar bis in die Lehre neoliberaler Coachs und ins Silicon Valley geschafft. Autoren wie der US-Amerikaner Ryan Holiday schreiben auflagenstarke Karriere-Ratgeber, in denen sie Mark Aurel als Beispiel für Geschäftsgeist und Durchsetzungskraft zitieren. Es gehe darum, berufliche Niederlagen anzunehmen, sie nicht auf sich zu beziehen und stattdessen noch härter zu verhandeln.
Ein Missverständnis in dieser neoliberalen Aneignung, so Anna Schriefl, Philosophin an der Universität Bonn: „Die antiken Stoiker sind nicht daran interessiert, besonders viel weltlichen Erfolg zu erzielen oder besonders reich zu werden. Wenn man die stoische Philosophie auch nur annähernd verstanden hat, dann weiß man, dass all diese Dinge, wie beruflicher Erfolg, Reichtum und Ansehen, nicht zu den entscheidenden Inhalten des guten Lebens gehören.“
Die sogenannten „Modern Stoicists“ entwerfen das sexistische Bild eines neuen Stoikers. Es ist ein harter, asketischer, geschäftlich erfolgreicher Mann, der nicht wie Frauen durch Gefühle verweichlicht ist – was nichts mit der ursprünglichen stoischen Philosophie zu tun hat.
Da hält man sich besser an das Original. Denn Mark Aurels "Selbstbetrachtungen" zeigen, wie man auch in schwieriger Zeit Trost und Stärkung findet, klar denkt, den natürlichen Bedürfnissen von Körper, Seele und Geist nachkommt und sich für die Gemeinschaft einsetzt. Gerade in der Corona-Zeit eine Lebens-Philosophie zum Neuentdecken.
SWR 2021