Musikstück der Woche vom 14.09.2015

Sinfonia espansiva

Stand
AUTOR/IN
Doris Blaich

Carl Nielsen: Sinfonie Nr. 3 d-Moll op. 27

In seiner "Sinfonia espansiva" betreibt Carl Nielsen Expansionspolitik – ohne Krieg und Schlachten, sondern allein mit musikalischen Ideen und Harmonien. In unserem Musikstück der Woche spielt das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg unter der Leitung von Michael Schönwandt. Ein Konzert vom 28.05.2014 im Auditorium de Dijon.

Tacheles statt Wischi-Waschi!

Der dänische Komponist Carl Nielsen in einem hellen Anzug mit Hut in der einen Hand, die andere in die Hosentasche gesteckt
Carl Nielsen 1908

"Ich protestiere" – so Carl Nielsen – "gegen das typisch dänische sanfte Dahingleiten. Ich will kräftigere Rhythmen". In seiner dritten Sinfonie hat Nielsen genau das umgesetzt. Die ersten Takte sind reiner Rhythmus: keine Harmonie, keine Melodie, nur ein einziger Ton (ein a), 26 Mal erklingt er, in immer kürzeren Notenwerten und engeren Abständen; wie Morsezeichen, die sich hektisch beschleunigen eine fast explosive Sogwirkung entfalten. Aus dieser Schubkraft entwächst das Hauptthema in den Holzbläsern. Mit riesigem Atem und grandioser Steigerung entwickelt es sich über 137 Takte hinweg nach As-Dur, also weit weg vom Ausgangspunkt d-Moll.

Musikalische Expansionen  

"Sinfonia espansiva" hat Nielsen diese Sinfonie genannt. Er meint damit nicht etwa die zeitliche Ausdehnung (die ist mit 35 Minuten schon beinahe knapp) oder die Orchesterbesetzung (mit dreifach besetzten Holzbläsern zwar üppig, aber keineswegs größenwahnsinnig), sondern die "Erweiterung des Gesichtskreises und die Expansion von Leben, die daher rührt". Dazu gehört auch die Erweiterung des tonalen Gesichtskreises: eine Tonalität also, die nicht mehr nur ein klares Gravitationszentrum hat, sondern die in weit abgelegene Regionen fortschreitet und sich dort ‚heimatlich‘ verankert.

Natur, Jagd und Arbeit

"Andante pastorale" ist der Titel des zweiten Satzes: ruhig, schlicht, naturhaft ist sein Charakter. Drei Grundzutaten prägen ihn: eine einstimmige, in sich kreisende Streichermelodie in C-Dur, eingefärbt durch das spannungsreiche Intervall der kleinen Septime (typisch für die dänische Folklore und für Nielsens Musiksprache), dann eine bewegtere Melodie in den Holzbläsern, die einem musizierenden Hirten abgelauscht sein könnte, und die teils unwirsch-dazwischenfahrenden, teils zu großen Pathos aufgebäumten Einwürfe der Streicher. Schließlich ist alles zu einer großen Klangfläche übereinandergeschichtet, über der zwei Singstimmen mit schwebenden Vokalisen (also ohne Text) hinzutreten.

Ein Jagdmotiv der Hörner eröffnet den dritten Satz, die Oboe übernimmt mit verschnörkelten Arabesken. Die werden durchkreuzt von wilden Trillern und Tonrepetitionen der Streicher: "Herzschlag der Arbeit" nannte Nielsen dieses energievolle Pulsieren. Im Finale steigert er den Herzschlag zur "Apotheose der Arbeit". Hier wagt sich die Musik mit ihrem simpel hymnischen Hauptthema weit an die Grenze des Banalen, biegt dann aber immer wieder – und gerade noch rechtzeitig – ab in überraschende harmonische Regionen und in das Terrain des kunstvoll-komplexen Kontrapunkts.

Endlich anerkannt!

Für Nielsen brachte die Dritte den lang ersehnten Durchbruch: Endlich erkannte man ihn an als führenden Komponisten seines Landes. Und auch im Ausland schenkte man ihm größere Beachtung. Im Januar 1913 (rund ein Jahr nach der Uraufführung) spielte das Stuttgarter Tonhalleorchester die deutsche Erstaufführung. Urteil des Kritikers: "ein mächtig anregender Ruf aus dem Norden". 

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg,

SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg

1946 wurde das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg gegründet. Bis heute identifiziert es sich mit den Idealen seiner "Gründerväter", die der festen Überzeugung waren, dass die engagierte Förderung der neuen Musik ebenso wichtiger Bestandteil des Rundfunk-Kulturauftrags ist wie der Umgang mit der großen Tradition.

In diesem Sinne haben die Chefdirigenten von Hans Rosbaud über Ernest Bour bis zu Michael Gielen gearbeitet und ein Orchester kultiviert, das für seine schnelle Auffassungsgabe beim Entziffern neuer, "unspielbarer" Partituren ebenso gerühmt wird wie für exemplarische Aufführungen und Einspielungen des traditionellen Repertoires eines großen Sinfonieorchesters. An die 400 Kompositionen hat das Orchester bisher uraufgeführt und damit Musikgeschichte geschrieben; es gastiert regelmäßig in den (Musik)-Hauptstädten zwischen Wien und Amsterdam, Berlin und Rom, Salzburg und Luzern. Michael Gielen prägte das Orchester als Chefdirigent in den Jahren 1986-1999, dann übernahm Sylvain Cambreling. Seit September 2011 steht François-Xavier Roth an der Spitze.

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Doris Blaich