Komplette Debussy-Edition

In jeder Hinsicht außergewöhnlich

Stand
AUTOR/IN
Eleonore Büning

CD-Tipp vom 12.1.2018

Fünf Finger reichen fast schon fast aus, wenn es darum geht, die wirklich populären Werke von Claude Debussy – wie La Mer, Pelléas, Clair de lune, Children’s Corner, Images oder Syrinx – aufzuzählen. Dieser große Komponist war in allen Gattungen und Genres aktiv, Debussy schrieb Opern, Lieder, Chor- und Kammermusiken; doch das Meiste davon ist nach wie vor nur etwas für den Kenner. Nur der kleinste Teil von Debussys Œuvre hat es schlussendlich ins Standard-Repertoire geschafft, und 100 Jahre nach seinem Tod tauchen immer noch manchmal Stücke auf, die man verloren glaubte. Claude Debussy ist also ein Gedenkkomponist, der ein bisschen mehr Aufmerksamkeit wirklich gut gebrauchen kann.

Erstklassige Interpreten
Das Besondere an der in jeder Hinsicht außergewöhnlichen neuen Debussy-Gesamt-Edition von Warner Classics ist: Sie bietet nicht nur ihre schönsten Häppchen aus dem Back-Katalag an, zum soundsovielten Mal verramscht, frei nach dem Motto: „Best of – aber das so billig wie möglich“. Diese Debussy-Edition präsentiert das „Gesamt“-Werk, auf dem neuesten Stand der Forschung. Es wurden Neuaufnahmen dafür finanziert. Auch die Jugendwerke, auch das Unvollendete, auch Fragmente sind enthalten, sämtliche Opern und Kantaten Debussys, alle Klavierfassungen und Orchestrierungen. Und das mit erstklassigen Interpreten!

Wahre Schatztruhe voller Hörabenteuer
Das ist ein Fest, eine wahre Schatztruhe voller Hörabenteuer! Die beliebte und bekannte Suite für Klavier „Children’s Corner“ zum Beispiel ist gleich dreimal vertreten. Einmal gespielt von Samson François, im Salle Wagram 1969 – eine Referenzaufnahme schlechthin. Dann die Aufnahme, die Debussy selbst ein halbes Jahrhundert vorher auf dem Welte-Mignon-Reproduktions-Klavier eingespielt hatte, für die Ewigkeit. Klar, dass eine Welte-Mignon-Lochstreifen-Rolle von 1913 nicht alle Nuancen und Balancen der Interpretation einfangen kann. Aber eine Ahnung davon, wie der Komponist selbst sein Stück aufgefasst hat, die teilt sich mit: Debussy wollte das Stück eindeutig sehr viel schneller, als Samson François! Und es gibt noch eine dritte Version der Children’s Corner in der neuen Debussy-Box, die sehr viel langsamer ist – aber umso mehr Farben hat. Diese Aufnahme stammt aus dem Jahr 1973. Es handelt sich um die Orchesterfassung, die André Caplet 1910 im Auftrag Debussys arrangiert hat. Caplet war Komponist und Dirigent, er war Debussy freundschaftlich eng verbunden, er hat ihm viel zugearbeitet, sei es, dass er Klavier-Auszüge schrieb oder aber Klavierstücke orchestrierte. All diese Caplet-Debussy-Bearbeitungen sind jetzt dankenswerterweise greifbar – etwa mit dem französischen Rundfunkorchester (ORTF) unter der Leitung von Jean Martinon. Martinons Vorgänger als Chefdirigent dieses ältesten französischen Rundfunkorchesters war der Komponist und Dirigent Desiré-Emile Inghelbrecht gewesen, er hatte es 1934 gegründet. Auch Inghelbrecht, der, wie Caplet, einer von Debussys Jüngern und Vertrauten in dessen letzten Lebensjahren war, ist mit einer exemplarischen Aufnahme in der neuen Debussy-Edition vertreten.

Lieblings- und Referenzaufnahmen, ausgewählt mit Sinn und Verstand
Die Garde weiterer großer Debussy-Interpreten aus Geschichte und Gegenwart reicht von André Cluytens über Pierre Boulez bis Francois-Xavier Roth, von Aldo Ciccolini über Martha Argerich bis Pierre-Laurent Aimard, von Bariton Gérard Souzay bis Countertenor Philippe Jarossky, von Mary Garden, die Debussys Uraufführungs-Mélisande war, bis zu Elly Ameling und Véronique Gens, von Yehudi Menuhin bis Renaud Capuçon. Lauter glanzvolle Lieblings- und Referenzaufnahmen, ausgewählt mit Sinn und Verstand! Dahinter steht ein Musikwissenschaftler, einer der besten dieser Zunft, er heißt Denis Herlin, und er hat nicht nur über die Nocturnes von Debussy promoviert; Herlin ist auch Leiter der kritischen Debussy-Edition und zugleich Leiter des „Centre national de la Recherche Scientifique“ – das ist in etwa das französische Pendant zur deutschen Max-Planck-Gesellschaft. – „Claude Debussy – The Complete Works“ umfasst 33 CDs, die Edition kostet etwa 70 Euro. Man kann, glaube ich, sein Geld zurzeit nicht sinnvoller anlegen.

CD-Tipp vom 12.1.2018 aus der Sendung „SWR2 Treffpunkt Klassik – Neue CDs“

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Eleonore Büning