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Maurizio Fiorino – K.O.

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AUTOR/IN
Anna Vollmer

Romane über die Armut und Härte des italienischen Südens gibt es einige. Um Homosexualität geht es darin aber selten. Maurizio Fiorinos Roman „K.O." erzählt die Geschichte eines jungen Mannes in Kalabrien, der nicht in die sozialen Normen seines Dorfes passt.

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Kalabrien, die ärmste Region Italiens, hat nicht den besten Ruf. Sie gilt als rückständig und archaisch, im schlimmsten Fall als kriminell. Maurizio Fiorinos Roman „K.O.“ bestätigt dieses Bild einmal mehr. Der Autor, 1984 selbst in Kalabrien geboren, erzählt die Geschichte von Biagio, der in den 70er- und 80er-Jahren in dem fiktiven kalabrischen Ort Bagnamurata aufwächst. Sein Vater, der Dorfmetzger, neigt zu Wutausbrüchen; die Mutter ist vor langer Zeit bei einem Autounfall gestorben. Es ist ein Leben in Armut, dessen Beschreibung nichts Romantisches oder Verharmlosendes hat. Daran lässt schon die erste Szene keinen Zweifel. Da erinnert sich Biagio:

„Ich verbrachte meine Zeit im Hinterzimmer seiner Metzgerei, boxte auf die Kadaver der Tiere ein, die er gerade geschlachtet und vor dem Ausbeinen an stählernen Deckenhaken aufgehängt hatte.“

Man kann sich schönere Freizeitbeschäftigungen für einen Zehnjährigen vorstellen.

Ein Dorf irgendwo im kalabrischen Hinterland

Das Dorf, in dem Biagio aufwächst, beschreibt Fiorino im Roman so:

„Ein Fleckchen Erde, das weder am Meer noch im Hinterland lag. Es sah aus, als wäre es zwischen zwei Bergen stecken geblieben.“

Ein im wahrsten Sinne des Wortes abgehängter Ort also, wie man ihn in der Literatur über den italienischen Süden häufig findet. In Carlo Levis „Christus kam nur bis Eboli“ etwa. Aber auch in Elena Ferrantes Neapel-Tetralogie, in der das Viertel der beiden Protagonistinnen so isoliert ist, dass dessen Bewohner in einer Hafenstadt leben, ohne je das Meer zu sehen.

Diese Isolation hat zwangsläufig einen Einfluss auf das Leben der Menschen, in Bagnamurata ist das nicht anders. Denn dieser zwischen Bergen eingepferchte Nichtort scheint die Engstirnigkeit vieler Bewohner geradezu zu bedingen. Ganz so, als fehle es allein wegen seiner geografischen Lage an Weitblick und Perspektive. In Bagnamurata kennt jeder jeden und Urteile sind schnell gefällt. Biagio gilt als begriffsstutzig, andere als „pervers“. Wie Vittorio, der Männer mag und Frauenkleider trägt. Durch ihn wird Biagio das erste Mal bewusst mit seiner eigenen Homosexualität konfrontiert, die ihn überfordert und verunsichert. Im Roman beschreibt er das so:

„Mir fehlten die Worte für dieses Leben, in dem ich da gefangen war. Ich wuchs mutterseelenallein auf, musste jedes Mal wieder aufs Neue entscheiden, was richtig und was falsch war, wobei ich beides häufig verwechselte.“

Fortzugehen ist für viele die einzige Möglichkeit, der finanziellen Misere, aber auch der dörflichen Enge zu entkommen. Einige Figuren des Romans ergreifen sie, andere bleiben.

Rückblick nach Jahrzehnten

Für Biagio sind die einzige Hoffnung einige wenige andere Menschen. Elsa, die Freundin des Vaters, die ihm Bücher über die griechische Antike schenkt und damit nicht nur seine Leidenschaft für Kunst, sondern auch für die Schönheit männlicher Körper weckt. Vittorio, der sich vom Urteil der anderen nicht einschüchtern lässt. Und Alceo, in den Biagio sich zum ersten Mal verliebt und mit dem er seine vielleicht einzigen wirklich glücklichen Momente erlebt.

Zum Zeitpunkt der Erzählung ist Biagio kein Kind mehr, sondern blickt Jahrzehnte später auf seine Jugend zurück. Für die Geschichte ist das ein Vorteil, kann doch der inzwischen erwachsene Erzähler die Erlebnisse anders deuten als der Junge von einst, der gerade unter ihnen leidet. Das lässt Raum für Ambivalenz. Zwar verhält sich Biagios Vater ihm gegenüber oft grausam. Doch ahnt man schon recht früh, dass er seinen Sohn trotzdem liebt und eine sensible Seite hat, die er nicht zeigt. Wie so oft gibt es Gründe, aus denen er zu dem geworden ist, der er ist. Gründe, die der Roman jedoch erst ganz am Schluss enthüllt.

Biagio ist schwul und unglücklich verheiratet

Auch Biagio ist keine eindimensionale Figur. In seiner Ehe mit Sara verhält er sich so kalt, als hätte er nicht selbst sein ganzes Leben unter einem Mangel an Liebe gelitten. Realistisch ist Fiorinos Roman wohl auch wegen seiner Beobachtung, dass Menschen durch schlechte Erfahrungen nicht zwangsläufig milder oder empathischer werden. Sondern nachahmen, was sie kennen.

„K.O.“ ist nicht der erste Roman, der die düstere Seite des italienischen Südens, seine Armut und Härte, zeigt. Doch indem Fiorino diesen etablierten, manchmal auch klischeebeladenen Topos um die Geschichte eines schwulen jungen Mannes ergänzt, fügt er ihm einen neuen Aspekt hinzu.

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