SWR2 lesenswert Kritik

Adam Morris – Bird

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AUTOR/IN
Claudia Fuchs

Adam Morris wirft in seinem Kriminal- und Gefängnisroman „BIRD“ einen schonungslosen Blick auf die segregierte Gesellschaft Australiens. Die hält die Vorrechte der weißen Bevölkerung noch immer für selbstverständlich, während einem jungen Aboriginal wie dem 25-jährigen Carson nur eine Knast-Karriere offensteht.

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„Kriminalroman“ steht unter dem Buchtitel „BIRD“ und das weckt bestimmte Erwartungen: Mord, polizeiliche Ermittlungen, falsche Spuren und am Schluss dann die Überführung des Täters.

Doch nichts von alldem findet sich im Kriminalroman des australischen Autors Adam Morris und das ist nur eine der Überraschungen, mit denen sein hoch spannendes Buch aufwartet.

Weit weg vom üblichen Muster der Whodunit-Krimis nimmt uns Morris mit auf eine Reise mitten ins dunkle Herz Australiens. „Gefängnisroman“ wäre wohl die treffendste Bezeichnung für dieses Buch, das erschreckende Einblicke in den Alltag einer westaustralischen Haftanstalt gibt. Dass diese Innenansichten realistisch sind, darf man annehmen, da der Autor als Kunst-, Tanz- und Musiklehrer in Gefängnissen unterrichtete.

Dreißig Prozent aller Häftlinge sind Aborigines

Hauptfigur des Romans ist Carson, ein Aboriginal von Mitte Zwanzig, intelligent, begabt und eigentlich gutwillig. Außerdem sieht er gut aus, weshalb weiße Frauen oft Verhältnisse mit ihm beginnen. Als dunkelhäutiger Indigener gehört er zu den australischen Ureinwohnern, die drei Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Aber knapp dreißig Prozent aller Häftlinge in Australien sind Indigene. Diebstahl, Körperverletzung, Sexualdelikte, Schwarzfahren – all das summiert sich auch für Carson zu einer frühen, scheinbar endlosen Knast-Karriere.

Warum das so ist, erfahren wir von einem Dutzend Nebenfiguren, die Carson in unterschiedlichen Lebenssituationen begegnen. Gefängniswärter, eine Psychologin, ein Kunstlehrer, Polizisten, Freunde und Freundinnen spiegeln uns ihr Bild des jungen Mannes, dessen Einzelteile wir so zu einem komplexen Gesamteindruck zusammensetzen können.

Diese multiperspektivische Erzählweise vermittelt zugleich ein facettenreiches Bild der modernen australischen Gesellschaft. Adam Morris, selbst ein weißer Australier, lässt uns daher meist aus weißer Sicht an Carsons Leben teilhaben. Aber rassistische Vorurteile, die zu Gewaltausbrüchen führen, gibt es auch zwischen dem indigenen Carson und einem indischen Zugkontrolleur.

Australiens Gesellschaft ist gespalten. Eine weiße Hautfarbe ist die Eintrittskarte in ein bürgerliches Leben mit sicherem Arbeitsplatz und Aufstiegschancen. Ehrgeiz oder Anstrengung sind dafür nicht unbedingt erforderlich – das Privileg der Hautfarbe genügt. Adams Nebenfiguren reagieren in erlebter Rede auf Carsons Erzählungen aus einer indigenen Parallelwelt, zu der sie keinen Zugang haben.

Jemanden wie Carson unter Kontrolle bringen

Auch das weiße Gefängnispersonal reagiert auf die Insassen und denkt über sie nach. Die ältere, zugewandte Gefängnispsychologin etwa sieht die bittere Ausweglosigkeit des Systems, an dem sie zunehmend verzweifelt. Für Wärter, Richter und Polizisten ist ein junger Aboriginal wie Carson ein lästiger Unruhestifter, den sie verhaften, verhören und unter Kontrolle bringen müssen.

Eigentlich beschäftigt sind die Justizbeamten mit ihrer untreuen Ehefrau, dem Umzug der Enkel oder den Planungen fürs Abendessen. Sie haben Probleme, aber auch Pläne, während Carson keine Pläne hat, weil er keine Zukunft sieht und mit Mitte Zwanzig auch schon keine mehr hat.

Dieses Buch ist eine sehr gute Zumutung

Adam Morris erspart uns nichts. Weder die brutalen Schlägereien unter Kleinkriminellen noch die ermüdenden, abstrusen Zukunftspläne der Langzeit-Gefangenen. Auch sprachlich ist das Buch eine Zumutung. Die rohen Flüche und Verwünschungen gehören zur Alltagssprache der Häftlinge. Alkoholmissbrauch, Drogenkonsum, stumpfsinnige Haftroutinen und Polizeigewalt hinterlassen nicht nur körperliche Folgen, sie wirken sich auch auf Psyche und Denkvermögen aus. „Wenn er ehrlich war“, resümiert der Kunstlehrer David, „arbeitete er in einem Irrenhaus. … Sie alle schienen rettungslos irre zu sein, bewaffnet nur mit einem unerbittlichen Hang zur Selbstzerstörung ….“.

Carsons rhetorische Waffe sind sein Humor und seine Redegewandtheit, die ahnen lassen, welches Potential in ihm steckt. Aber diese Waffe wird mit den Jahren stumpf. Die durchschnittliche Lebenserwartung der Aborigines liegt knapp zwanzig Jahre unter der ihrer weißen Mitbürger. Aus Australien kommen in den letzten Jahren bemerkenswerte Bücher, etwa die Krimis von Garry Disher und Chloe Hoopers Tatsachenroman „Der große Mann“. Mit seinem ungewöhnlichen Kriminalroman sichert sich Adam Morris nun mühelos einen Platz zwischen diesen beiden Könnern. Wer mehr über die Schattenseiten im sonnigen Australien wissen will, sollte „BIRD“ unbedingt lesen.

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