Die geschändete Salome wimmert
Der wimmernde Ton der Kontrabasssaiten zwischen den Fingern verkörpert die jammernde Seele der Titelfigur im Finale von Richard Strauss’ musikdramatischem Einakter „Salome“. So hörte das der Komponist selbst. Warum aber dieser Jammerton?
Sláva Daubnerová hat in ihrer etwas zu komplexen, anspielungsfülligen, teilweise zum Camp tendierenden Inszenierung am Badischen Staatstheater in Karlsruhe eine eindeutige Antwort. Salome ist das von ihrem Stiefvater Herodes sexuell missbrauchte und geschändete Kind.
Herodes als Harvey Weinstein seiner Zeit
Über der Bühne schwebt das riesige, kraterdurchfurchte Gesicht der Mondoberfläche als ein bedrohliches Zeichen. Schon vor dem Beginn des Klarinettenlaufs nach oben, mit dem musikalisch der Vorhang aufgezogen wird, sehen wir das überreife Kind kostümiert wie der böse Clown Pennywise aus der Stephen King-Verfilmung „Es“ beim Haschefangen mit Stiefvater Herodes.
Es hält einen blauen Ballon an der Schnur und wir ahnen schon, dass an ihr das abgeschlagene Haupt des Jochanaan enden wird. Das Kind ist böse geworden, weil es an diesen Harvey Weinstein des frühchristlichen Zeitalters geraten ist.
Und das bockige Mädchen tanzt vor dem lüsternen Stiefvater, um zur Belohnung und als Rache den Kopf des Einzigen zu bekommen, vor dem sich Herodes fürchtet. Es ist der gefangen gesetzte Jochanaan, der Prophet der Zeitenwende.
Den Weltreligionen zum Fraß
Herodes in seiner weißen Uniform des Operettengenerals entstammt einem Foto des anderen Kinderschänders Jeffrey Epstein und entpuppt sich bei Salomes Tanz als Antichrist in purpurrotem Fummel. Und der thront auf den Rücken der monotheistischen Weltreligionen.
In dieser „Salome“ keifen nicht mehr die fünf Juden und zwei Nazarener über die Ankunft des von Jochanaan verkündigten Messias, sondern der Rabbi, der Imam, der Pope, der Kardinal und der Priester Buddhas. Und Salome tanzt nicht nur vor Herodes, sondern wird von ihm den Popanzen des Religiösen zum Fraß vorgeworfen.
Kinderschänder entpuppt sich als Antichrist
Und sie ist nicht allein: die mobile Raumflucht der Despotenvilla auf der von Boris Kudlicka gestalteten Bühne beherbergt zahllose kindliche Leidensgefährtinnen der Salome. Bei der Entpuppung des Herodes als Antichrist halten sie Schriftzeichen auf Pappschildern hoch: „The End is here“.
Das ist im Sinne der zahlreichen biblischen Textanspielungen „Apocalypse now“. Auf den Rückseiten prangt die Fratze des kinderschänderischen Tetrarchen.
Atemberaubender Schlussmonolog von Paulina Linnosaari
Salomes Duett mit Jochanaan über ihr erotisches Begehren nach seinen Augen, seinem Haar und Mund, wird hier zur Auseinandersetzung mit ihrer eigenen verkorksten Sexualität. Jochanaan sitzt denn auch rührungslos festgeschnallt auf einer Art elektrischem Stuhl und Salome beschäftigt sich mit ihrem Körper, während er mit der lyrisch klaren Stimme von Thomas Hall die pure vokale Verführung bei gleichzeitiger Zurückweisung ist.
Pauliina Linnosaari verkörpert das böse, doch unschuldige und damit tragische Kind großartig, sich stimmlich zu ihrem atemberaubenden Schlussmonolog steigernd.
Matthias Wohlbrecht singt den Herodes als wirklich gefährlichen Tenor und nicht wie so oft als lächerlichen Lüstling. Überhaupt ist das gesamte Ensemble in höchsten Tönen zu loben.
Szenisch wie musikalisch ein Abenteuer
Was Georg Fritzsch am Pult der Badischen Staatskapelle aus der schillernden Partitur hervorzaubert hat man mit solcher Transparenz und Entdeckerfreude lange nicht mehr gehört. Er ist ein klug balancierender Sängerbegleiter, der nie zudeckt, dem aber die plastische Wucht des großen Orchesters keineswegs entgleitet.
Das Badische Staatstheater bietet ein szenisch wie musikalisch herausforderndes Abenteuer dieses „Scherzo mit tödlichem Ausgang“, wie Strauss seine „Salome“ einmal selbst punktgenau bezeichnete.