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Sex und Grenzen – Dominanz, Drogen und Voyeurismus (3/4)

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Lukas Meyer-Blankenburg
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Die größte Lust entsteht für einige Menschen oft erst dann, wenn die Grenze zu Schmerz, Leid oder gar Gewalt verschwimmt. Warum gibt es Grenzüberschreitungen beim Sex?

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Wo beginnt die Grenzüberschreitung beim Sex?

Partnerschaftlicher Sex ist immer eine Grenzüberschreitung. Indem wir uns beim Sex mit einem anderen Menschen vereinigen, wird aus dem Ich ein Wir. Die eigene Körpergrenze löst sich auf, manchmal fühlt man nicht mehr, wo man selbst aufhört und wo der andere, die andere beginnt. Und auch ein Orgasmus kann eine regelrecht entgrenzende Erfahrung sein: wenn man sich so fühlt als wäre man „außer sich“.

Beim Sex fließen Erfahrungen und Erlebnisse aus dem ganzen Leben mit ein – schöne, aber auch nicht so schöne, bewusst oder unbewusst. Es kann sein, dass gerade Dinge, die man im Alltag ablehnt, oder Situationen, vor denen man besondere Angst hat, beim Sex wiederum als besonders lustvoll erlebt werden. Beim Sex mit einer anderen Person oder in einer Beziehung geht es also immer darum, gemeinsam Grenzen auszuloten und festzusetzen, indem man darüber spricht.

Was ist BDSM?

Die Abkürzung BDSM ist ein Oberbegriff:

  • Das B steht für Bondage, meint also alles, was mit Fesseln zu tun hat: von Handschellen bis zum Ganzkörper-Einpacken in Folie.
  • Das D steht für zwei Begriffe: Disziplin und Dominanz. Da geht es in der Regel um Rollenspiele, um Unterwerfung und Kontrolle.
  • Auch das S hat zwei Bedeutungen: Es steht für das Englische "submission", also Unterwerfung. Und für Sadismus.
  • M steht für Masochismus, also Schmerzen zufügen oder erleiden. Was dann aber jeweils als besonders lustvoll gilt.

Welchen Einfluss hat "Fifty Shades of Grey"?

BDSM hat einen irren Aufstieg erfahren, was vermutlich mit dem berühmten Welt-Bestseller bzw. Film „Fifty Shades of Grey“ zu tun hat: Eine junge, sexuell unerfahrene Frau begibt sich in die Hände eines dominanten Mannes. Der Experte Konrad Weller ist noch vorsichtig mit exakten Zahlen, er beobachtet aber, dass gerade jüngere Frauen wohl eine große Affinität zu BDSM-Praktiken haben.

Frau legt Mann Handschellen an: In einer aktuellen Online-Befragung, die Konrad Weller mit seinem Team durchgeführt hat, haben 30 Prozent der Frauen angegeben, ein gesteigertes Interesse an BDSM zu haben (Foto: IMAGO, IMAGO / agefotostock)
In einer aktuellen Online-Befragung, die Konrad Weller mit seinem Team durchgeführt hat, haben 30 Prozent der Frauen angegeben, ein gesteigertes Interesse an BDSM zu haben

Was jedoch in professionellen SM-Studios vor sich geht, betrifft andere Dimensionen. Da geht es um bewusstseinserweiternde oder bewusstseinsverändernde Grenzerfahrungen. Viele wollen in den sogenannten „sub space“ gelangen, eine Art rauschhaften Bewusstseinszustand.

Und auch beim BDSM geht es ums Verhandeln. Konrad Weller, Sexualwissenschaftler vom Institut für Angewandte Sexualwissenschaften an der Hochschule Merseburg, beschreibt den inneren Widerspruch beim BDSM: Einerseits wird Einvernehmlichkeit hergestellt, es wird auf Selbstbestimmung geachtet – aber der Aushandlungsprozess betrifft dann wiederum den Verzicht auf Selbstbestimmung, aber nur in der Rolle. Also: Ich lasse mich fesseln, aber ich bestimme die Regeln.

Was haben Sex und Drogen mit Diskriminierung zu tun?

ChemSex ist ein Phänomen, das zum ersten Mal als größeres Problem 2010 in Großbritannien aufgetreten ist und dann nach Deutschland kam, zunächst vor allem unter homosexuellen Männern.

Daniel Deimel ist Professor für Klinische Sozialarbeit an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen und hat für Deutschland 2018 die erste große „ChemSex“ Studie geleitet. Mithilfe der Deutschen Aids-Hilfe hat Deimel mehr als 1.000 homo- und bisexuelle Männer online befragt. Interessanterweise sind die Männer, um die es in der Studie geht, überdurchschnittlich gebildet und haben ein überdurchschnittlich hohes Einkommen. Zum Sex nehmen sie Mittel wie Methamphetamin, Mephedron oder Ketamin. Das Problem ist: Die Stimulanzien werden häufig gemischt. Das kann lebensgefährlich sein. Und viele der Mittel machen sehr schnell süchtig.

Es scheint sich abzuzeichnen, dass Frauen sogar häufiger zu Stimulanzien greifen als Männer. Warum das so ist, kann Deimel aber noch nicht sagen. Er vermutet einen Zusammenhang zwischen der Erfahrung sexueller Diskriminierung und Suchtproblemen. Viele der Männer in Daniel Deimels Studie leiden an traumatischen Erfahrungen oder Diskriminierungserfahrungen wegen ihrer sexuellen Neigung, zum Beispiel weil sie von ihrer Familie abgelehnt werden.

Wer Hilfe sucht, findet über die Internetseiten der Deutschen Aids-Hilfe oder die Unikliniken in den größten deutschen Städten Angebote. Es gibt aber auch eine bundesweit einzigartige Beratungsstelle an der Uni Tübingen.

Hat der Corona-Lockdown die sexuelle Hemmschwelle gesenkt?

Richard Lemke forscht schon seit vielen Jahren zu Internetsexualität und Cybersex. Deutlich zeichnet sich für ihn ab, dass der Pornografie-Konsum zugenommen hat und dass die Nutzung von Online-Dating zugenommen hat, also eine Vorstufe von Sexualität.

Rote Peitsche neben Laptop: Online kann man sich mit anderen Menschen offen über ganz unterschiedliche Fantasien und Neigungen austauschen, um die eigenen Grenzen zu erkunden (Foto: IMAGO, IMAGO / agefotostock)
Online kann man sich mit anderen Menschen offen über ganz unterschiedliche Fantasien und Neigungen austauschen, um die eigenen Grenzen zu erkunden

Lemke sagt, Cybersex ist vor allem eine „Versprachlichung von Sex“, bei der in das wechselseitige Fantasieren eingestiegen wird. Zum Beispiel darüber, was man jetzt miteinander machen würde, wenn man beieinander wäre, und was dem Gegenüber gefällt. Dem liegt eine große Versprachlichung von Sexualität zugrunde, die in der körperlichen Begegnung oft sprachlos stattfindet.

Online kann man sich mit anderen Menschen offen über ganz unterschiedliche Fantasien und Neigungen austauschen. Denn das Spiel mit Grenzen kann ein sehr reizvoller Aspekt beim Sex sein. Auch wenn man manchmal eine Grenze überschreiten muss, um von da an zu wissen, dass man sie doch lieber beibehalten möchte.

Sind Grenzverletzungen online immer traumatisierend?

Der Sexualwissenschaftler Konrad Weller stellt klar, dass das Internet ein großer Tatort ist und im Schutz der Anonymität viele Formen sexueller Belästigung stattfinden. Er plädiert aber für einen mutigen, selbstbewussten Umgang. Denn Grenzverletzungen online müssen nicht traumatisierend wirken.

Das ist eine sehr wichtige Erkenntnis, weil gerade in den öffentlichen Missbrauchsdebatten häufig die verschiedensten Formen von Belästigungen und Missbrauch in einen Topf geworfen werden. Aber es gibt einen qualitativen Unterschied zwischen Grenzverletzungen online und offline, so Weller. Vor allem jedoch können solche Übergriffe heute viel offener kommuniziert werden, ob nun Kinder und Jugendliche sich an Freundinnen und Freunde oder auch an ihre Eltern wenden.

Es gibt heute eine höhere Sensibilität für die Themen sexuelle Belästigung, sexueller Missbrauch. Das führt dazu, dass mehr Fälle erkannt und angesprochen werden, und unser Umgang damit wird immer souveräner.

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