SWR2 Wissen

Schreien – Eine verkannte Fähigkeit

Stand
AUTOR/IN
Martin Hubert
Martin Hubert (Foto: Martin Hubert)
ONLINEFASSUNG
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Hat Schreien zu Unrecht einen miesen Ruf? Manche sagen, Babys lernen über das Schreien sprechen. Und auch für Erwachsene ist es wichtig – ob aus Wut, Trauer oder Begeisterung.

Audio herunterladen (27,2 MB | MP3)

Schreie: vielfältig und strukturiert

Niemand möchte gerne angeschrien werden. Es tut in den Ohren weh, klingt bedrohlich und einschüchternd. Auch in der Wissenschaft waren Schreie lange Zeit nicht gerade ein Lieblingsthema. Aber das ändert sich. Denn zunehmend erkennen Forschende, wie vielfältig und strukturiert Schreie sein können und wie wichtig sie für das menschliche Leben sind. Und zwar schon, wenn das Leben gerade anfängt.

Babyschreisprache weist Muster auf

Kleine Babys schreien vor allem, wenn sie weinen. Was in den Ohren vieler Außenstehender oft unangenehm klingt, fasziniert Kathleen Wermke immer wieder aufs Neue. Sie leitet das Zentrum für sprachliche Entwicklung und Entwicklungsstörungen am Universitätsklinikum Würzburg.

Vor etwa 30 Jahren begann sie, das Geschrei von Babys und Kleinkindern zu analysieren. Es gibt wohl kaum einen Menschen auf der Welt, der mehr Erfahrung damit hat als sie. Wo Laien nur ein Tohubawohu hören, erkennt Wermke automatisch Strukturen und Muster, eine ganz eigene Babyschreisprache.

Am Anfang war nicht das Wort, sondern die Schreimelodie

Natürlich unterscheidet sich das frühkindliche Schreien von der Sprache der Erwachsenen gravierend. Aber Kathleen Wermke ist fest davon überzeugt, dass wir über das frühe Schreien direkt in die Sprache hineinwachsen. In ihren Rhythmus und in die Art und Weise, wie wir Laute abwechselnd betonen oder nicht und ganze Melodiebögen erzeugen. Auf diese Weise könnte für Kathleen Wermke vor zwei Millionen Jahren die Menschheit überhaupt zur Sprache gekommen sein.

Schreiender Kindermund: Die Forschung ist davon überzeugt, dass wir über das frühe Schreien direkt in die Sprache hineinwachsen (Foto: IMAGO, IMAGO / photothek)
Die Forschung ist davon überzeugt, dass wir über das frühe Schreien direkt in die Sprache hineinwachsen

Um diese These zumindest für die heutige Sprachentwicklung zu belegen, hat Kathleen Wermke ein riesiges Archiv aus Schreien und Lauten angelegt. Inzwischen umfasst es eine halbe Million Laute von Babys und Kleinkindern aus Deutschland, Frankreich, Schweden, China, Japan und Afrika.

Deutsche Babys schreien in auf- und abfallenden Melodien

Wir sagen zum Beispiel "Mama" oder "Papa" und betonen die erste Silbe. In dieser auf- und abfallenden Linie weinen im Durchschnitt auch die meisten deutschen Babys, ganz anders als französische Babys mit einer Tendenz zu aufsteigenden Linien in der Melodie.

Aber wie kann es möglich sein, dass Babys schon wenige Tage oder Wochen nach der Geburt in der Melodie der Sprache ihrer Umgebung weinen? Für Kathleen Wermke gibt es nur eine Erklärung: Der Nachwuchs muss schon im Mutterleib eine Art Lauttraining durchgemacht haben.

Schreikurs für melodiearme Babys?

Ab dem dritten Lebensmonat gehen Babys dann verstärkt zu Lauten über, die keine Schreilaute mehr sind. Dann tauchen auch die ersten Konsonanten auf. In dieser Übergangsphase profitieren die Babys aber immer noch von dem, was sie sie im Schreien gelernt haben.

Kathleen Werke glaubt, dass man Babys, die in ihren Melodiebögen zurückbleiben, eine Art „Schreikurs“ verpassen könnte, indem man ihnen die Schreilaute schon weiter entwickelter Babys vorspielt.

Klassifizierung bei Erwachsenen: vier negative Schreitypen, zwei positive

Wenn ein Erwachsener „schreit“, woran können wir dann erkennen, welche Bedeutung die Ausrufe haben? Ist es Freude, Überraschung, Wut oder Schmerz? Dem ist Sascha Frühholz vom Institut für Psychologie der Universität Zürich nachgegangen. Er ließ Menschen in seinem Labor Schreie ausstoßen, die dann von Versuchspersonen klassifiziert werden sollten.

Schreiende Spielerinnen bei der UEFA: Forschung besagt, dass sich Schreie durch sechs verschiedene Emotionen unterscheiden lassen (Foto: IMAGO, IMAGO / Norbert Schmidt)
Forschung besagt, dass sich Schreie durch sechs verschiedene Emotionen unterscheiden lassen

Frühholz entdeckte, dass sie dabei sechs verschiedene Emotionen unterschieden. Vier Alarmschreie für Furcht, Ärger, Schmerz und Trauer. Und zwei positive Schreie, bei denen die Versuchspersonen zum einen Freude wahrnahmen oder extreme Zustände von Vergnügen.

Freudenschreie haben mehr Melodie

Tatsächlich konnten die Versuchspersonen diese Schreie mithilfe verschiedener Eigenschaften relativ gut unterscheiden. Denn Angst- und Ärgerschreie klingen oft viel rauer als Freudenschreie. Und Ärgerschreie bevorzugen die tieferen Frequenzen.

Wenn wir vor Freude schreien, hört sich das melodiöser und heller an als bei anderen Schreien. Trotzdem geht die Evolutionsforschung davon aus, dass sich Freudenschreie erst recht spät entwickelt haben. Am Anfang der Evolution sollen die Angst- und Alarmschreie stehen, weil sie das Überleben sichern konnten.

Freudenschreie werden sehr früh als solche erkannt

Belege für diese Annahme gab es jedoch kaum, weshalb Sascha Frühholz die Annahme testete. Er spielte Versuchspersonen die sechs Schreitypen vor, die sein Team gefunden hatte. Ärger, Schmerz, Trauer, Furcht, Freude und Vergnügen. Die Probanden sollten dann so schnell wie möglich auf eine Taste für positive oder negative Schreie drücken.

Angst- und Ärgerschreie klingen oft viel rauer als Freudenschreie (Foto: IMAGO, IMAGO / YAY Images)
Angst- und Ärgerschreie klingen oft viel rauer als Freudenschreie

Das Ergebnis überraschte, denn Freudenschreie wurden viel weniger falsch klassifiziert im Vergleich zu negativen Schreien. Die Studienteilnehmer reagierten auch viel schneller auf die positiven Schreie.

Die Gründe dafür vermuten Wissenschaftler in der Kultur. Und das, was die Wissenschaft insgesamt über die Bedeutung des Schreiens herausgefunden hat, spricht sehr dafür, die Kultur des Schreiens zu pflegen. In möglichst kommunikativer Weise.

Evolution Wie der Mensch die Musik entdeckte

Lange hielten Forscher die Musik für ein unnützes Nebenprodukt der Evolution. Doch inzwischen zeigt sich: Die Musik war für die Steinzeitmenschen so wichtig wie die Sprache. Wie also klang die Urmusik?

SWR2 Wissen SWR2

Erziehung Emotionen lernen – Wie man den Umgang mit Gefühlen trainieren kann

Den Umgang mit Emotionen lernen wir als Kinder. Wie gut das gelingt, hängt von vielen Faktoren ab.

SWR2 Wissen SWR2

Psychologie Stille Freude, rasende Wut – Die Nuancen der Emotionen

Nur sechs Basis-Emotionen? Forscher*innen sagen heute, dass es weit mehr gibt als Angst, Ekel, Trauer, Ärger, Überraschung und Freude. Wie und was wir fühlen, hängt von Situation und Individuum ab.

SWR2 Wissen SWR2

Philosophie Dumme Wut – guter Zorn? Reflexionen über starke Gefühle

Wenn wir in Wut geraten, ist das Großhirn ausgeschaltet. Stresshormone werden ausgeschüttet, der Herzschlag beschleunigt sich, der Blutdruck steigt. Aber ist Wut deshalb „schlecht“?

SWR2 Wissen SWR2

Sprache und sprechen: aktuelle Beiträge

Bildung Sprachprobleme: Wieder viele Sitzenbleiber in Ludwigshafener Grundschule

In der Gräfenauschule in Ludwigshafen müssen schon wieder 44 Kinder die erste Klasse wiederholen. Aufgrund ihrer schlechten Deutschkenntnisse haben die Erstklässler Probleme, dem Unterricht zu folgen.

Impuls SWR Kultur

Kommunikation Geschichten erzählen – Wie wir mit Narrativen die Welt erklären

Geschichten sind ein uralter Teil der menschlichen Kultur. Sie unterhalten nicht nur, sondern schaffen Bedeutung. Die Welt in einfache Geschichten zu packen, kann aber auch Tatsachen verzerren. Welche Erzählungen brauchen wir? Von Luca Sumfleth (SWR 2024) | Manuskript und mehr zur Sendung: http://swr.li/geschichten-narrative | Bei Fragen und Anregungen schreibt uns: daswissen@swr.de | Folgt uns auf Mastodon: https://ard.social/@DasWissen

Das Wissen SWR Kultur

Sprache 40 Jahre Klingonisch: Wie es klingt und wie man es lernen kann

Klingonisch wurde durch die Serie „Star Trek“ bekannt. Die Sprache klingt so fremd wie von einem anderen Stern: rau, derb, voller Kehlkopflaute. Vor 40 Jahren entwickelt, ist Klingonisch bei vielen „Trekkies“ zum irdischen Hobby geworden. Wie lässt es sich lernen?
Christine Langer im Gespräch mit Lieven L. Litaer, Autor, Sprach-Coach und Klingonisch-Fachmann.

Impuls SWR Kultur

Stand
AUTOR/IN
Martin Hubert
Martin Hubert (Foto: Martin Hubert)
ONLINEFASSUNG
Ulrike Barwanietz
Candy Sauer