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Mythos Jungfernhäutchen – Wie falsche Vorstellungen Frauen schaden

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AUTOR/IN
Lydia Jakobi
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Das Jungfernhäutchen, auch Hymen genannt, soll beim ersten Sex reißen wie eine Folie. Ein Irrglaube, der sich hartnäckig hält.

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Das Jungfernhäutchen, auch Hymen genannt, hat seinen Namen vom griechischen Hochzeitsgott Hymenaios. Wie eine Folie soll es beim ersten Sex zerreißen. Der Irrglaube ist bis heute weit verbreitet. Der Mythos vom Jungfernhäutchen wird in Hochzeitsbräuchen, Kinofilmen, Schulbüchern oder Internet-Pornos fortgeschrieben. Und er ist so mächtig, dass sich manche Frauen dafür sogar operieren lassen.

Hymen: Schleimhautfalte ist Überbleibsel aus der Embryonalzeit

Es gibt wahrscheinlich so viele Hymen, wie es Frauen auf der Welt gibt.

Das Häutchen ist keine geschlossene "Frischhaltefolie", eher eine Bordüre, ein geraffter Haargummi, der sich wie alle anderen Körperteile im Laufe des Lebens verändert. Es kann verletzt werden, das ist aber nicht die Regel.

Die Schleimhautfalte ist ein Überbleibsel aus der Embryonalzeit. Anfangs verschließt sie den Vaginaleingang ganz, öffnet sich dann meistens vor der Geburt und entwickelt sich mit Einsetzen der Pubertät zu einem weichen Saum. Im Erwachsenenalter hat sie keine belegbare Funktion mehr.

Geschlossenes Jungfernhäutchen: selten und gesundheitsgefährdend

Am häufigsten ist das ringförmige Hymen. Bei manchen Frauen hat dieser Saum an verschiedenen Stellen Einkerbungen. Und in sehr seltenen Fällen ist das Jungfernhäutchen tatsächlich komplett geschlossen. Dieses sogenannte Hymen imperforatus ist für die Betroffenen allerdings gesundheitsgefährdend, weil das Menstruationsblut nicht abfließen kann.

Frühchristliche Schrift prägt Vorstellung von Marias Jungfräulichkeit

Die weibliche Jungfräulichkeit, die sich vermeintlich körperlich festmachen lässt, galt und gilt vielen Menschen als Ideal. Umso wichtiger also, "Belege" für die Unberührtheit der Frau zu finden. Zuvorderst bei jener, die wohl als berühmteste Jungfrau der Geschichte gelten darf: Maria. Das sogenannte Protoevangelium des Jakobus, eine frühchristliche Schrift aus dem zweiten Jahrhundert, die ausgesprochen populär wurde, beschreibt Marias Leben und Jesu Geburt. Die herbeigeeilte Hebamme erzählt einer anderen Zeugin, Salome, von der unbefleckten Empfängnis. Doch Salome zweifelt:

So wahr der Herr, mein Gott, lebt: Wenn ich nicht meinen Finger hinlege und ihren Zustand untersuche, werde ich nicht glauben, dass eine Jungfrau geboren hat. Und die Hebamme ging hinein und sagte: Maria, lege dich bereit. Denn ein nicht geringer Streit besteht um dich. Und als Maria dieses hörte, legte sie sich bereit. Nun steckte Salome den eigenen Finger in ihr Geschlecht.

Die Verse sind vielleicht eines der frühesten Zeugnisse für einen Irrglauben, der Frauen bis heute schadet.

Schleimhaut-Talk über Wissenslücken und Machtansprüche

Oliwia Hälterlein ist Kulturwissenschaftlerin und Autorin. Sie hat 2022 ein Büchlein mit dem Titel "Das Jungfernhäutchen gibt es nicht" veröffentlicht. Es ist eine Mischung aus Comic und wissenschaftlichem Essay, das mit den Legenden rings um die kleine Schleimhautfalte aufräumt. Hälterlein gibt auch Workshops zu dem Thema. Schleimhaut-Talks – so heißen sie im Beschreibungstext.

Ich glaube, es geht vor allem um Macht, dass man die erste Person ist, die etwas geöffnet hat, ich war der erste Penis und habe die Identität der Person verändert.

Doch woher kommt das falsche Wissen über das vermeintliche Jungfernhäutchen? Oliwia Hälterlein nimmt als Beispiel ein Biologiebuch vom Jahr 2022 aus Baden-Württemberg, Schulbuch sechste Klasse. Hier steht "Jungfernhäutchen" ganz groß betitelt und dass der Scheideneingang mit einem dünnen Häutchen verschlossen sein könne.

Schulbücher, Duden, Pornoseiten – alle kennen das vermeintliche Jungfernhäutchen

Nicht nur in Lehrbüchern stehen derlei irreführende Informationen. In Internetforen finden sich unzählige Fragen zum Thema. Auf den Beipackzetteln mancher Tampons heißt es, Mädchen, die noch keinen Sex hatten, könnten Mini-Tampons benutzen, um das vermeintliche Jungfernhäutchen nicht zu verletzen.

Der Online-Duden erklärte noch bis 2019, dass das Hymen ein dünnes Häutchen sei, das im Allgemeinen beim ersten Geschlechtsverkehr zerreiße. Die Seite "Cinderella Escorts" versteigert Frauen mit einem angeblich medizinisch überprüften Jungfrauenzertifikat. Pornoseiten bieten ganze Videosammlungen an, die zeigen wollen, wie das Hymen vermeintlich durchstoßen wird und blutet. Dabei bluten Befragungen zufolge nur etwa 30 bis 50 Prozent aller Frauen beim ersten Mal. Oft, weil sie verkrampfen.

Da ist etwas, das ist verschlossen oder ziemlich verschlossen, das muss geöffnet werden und das kann mit Schmerzen und Blut einhergehen – das ist doch eine Horrorstory!

Heute weiß man: Am Hymen ablesen zu wollen, ob eine Frau schon Geschlechtsverkehr hatte, ist etwa so sicher, wie dafür ihren großen Zeh zu begutachten.

Forschung: physische Jungfräulichkeit seit 200 Jahren widerlegt

Bereits vor mehr als 200 Jahren untersuchten Mediziner die gesellschaftliche Bedeutung des Jungfernhäutchens und die damit einhergehenden Vorstellungen von Jungfräulichkeit. Die Entjungferung sei ein Herrschaftsinstrument des Patriarchats — zu dem Ergebnis etwa gelangte der französische Arzt Louis de Jaucourt, ein Gelehrter des 18. Jahrhunderts. In seinem Beitrag über die weibliche Jungfräulichkeit für die berühmte Enzyklopädie des Aufklärers Denis Diderot polemisiert Jaucourt gegen deren Fetischisierung:

Die Menschen haben, stets eifersüchtig auf Alleinansprüche aller Art, immer schon großes Aufhebens gemacht von allem, von dem sie glaubten, sie könnten es exklusiv – und als erste – besitzen: Dieser Art ist die Torheit, welche die Virginität der Mädchen zu einem realen Wesen erklärt hat.

Louis de Jaucourt wusste, dass längst nicht alle Mädchen beim ersten Geschlechtsakt bluten, hatte aber keine Hoffnung, diese, wie er schrieb, "lächerlichen Vorurteile" zu zerstören. Denn was zu glauben angenehm sei, werde immer geglaubt werden. Sätze, die vor mehr als 250 Jahren fielen. Umso tragischer, dass noch heute ein roter Fleck auf dem Laken oft über den Wert einer Frau entscheidet.

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Operation für 3.000 Euro: Rekonstruktion eines Mythos

In fast jeder deutschen Großstadt finden sich eine oder mehrere Praxen, die eine Rekonstruktion des Jungfernhäutchens anbieten. In der Bezeichnung Hymenrekonstruktion ist die Vorsilbe "re" jedoch fehl am Platz. Denn es gibt im Prinzip keinen Normalzustand dieses vaginalen Schleimhautsaums, der wiederherzustellen wäre. Die Kosten des Eingriffs können dennoch je nach Fall auf über 3.000 Euro steigen und richten sich nach der ärztlichen Gebührenordnung.

Auch die Chirurgin Christina Günter informiert auf ihrer Website über die Operation der Hymenkonstruktion. Doch wer sind die Frauen, die für so viel Geld die vermeintliche Unschuld wiedererlangen wollen? Die jüngste auf ihrem Behandlungsstuhl, erzählt Christina Günter, sei 22 Jahre alt gewesen, die älteste fast 50.

Diese Frauen erleben oft erhebliche seelische Konflikte. Und ob diese Frau aus einem europäisch-christlichen Hintergrund kommt – sei er katholisch oder evangelikal – oder aus Indien stammt oder ob es sich um eine muslimische Frau handelt – das ist mir egal, das steht mir auch nicht zu, da ein Urteil zu sprechen und zu sagen: Der Frau steht es zu und der steht es nicht zu.

Die Chirurgin erinnert sich an die bayerische Katholikin, die als Kind von ihrem Vater missbraucht wurde und das Erlebnis ungeschehen machen wollte. An die vergewaltigte Geflüchtete. Oder an die muslimische Studentin, die in Deutschland aufgewachsen war, einvernehmliche Beziehungen geführt hatte und trotzdem den Druck verspürte, nach der Hochzeitsnacht einen Blutfleck präsentieren zu müssen.

Neben den plastischen Chirurginnen und Chirurgen gibt es ein paar Praxen, die an der Hymenkonstruktion nichts verdienen wollen. Das Berliner Familienplanungszentrum Balance zum Beispiel führt die Operation in Notfällen für rund 200 Euro durch. Eine Studie aus den Niederlanden hat zudem gezeigt, dass sich viele Frauen nach umfangreichen Aufklärungsgesprächen gegen den Eingriff entscheiden würden.

Fifty Shades of Grey, Twilight – überall Jungfrauen und Schmerzen

Man muss nicht in andere Länder schauen; in der westlichen Welt wird der Mythos der Jungfräulichkeit weiter fortgeschrieben. Man denke an den Bestseller "Fifty Shades of Grey", in dem die Literaturstudentin Ana für ihren dominanten Liebhaber Christian vor allem deshalb wertvoll ist, weil sie noch nie mit einem Mann intim war. Oder an die überaus erfolgreiche Saga "Twilight", in der die Hauptfigur Bella bis zur Hochzeit mit dem sexuell erfahrenen Vampir Edward Jungfrau bleiben muss. In der Erwartung größter Schmerzen, womöglich sogar ihres Todes, verliert Bella ihre Unschuld, ihre Blüte. Der Vampirbiss wird zur Metapher für die Defloration.

Die fünf Folgen der Fantasy-Reihe spielten mehr als 3 Milliarden Dollar ein, vor allem beim jüngeren Publikum waren sie beliebt. Was also tun gegen einen so weit verbreiteten Irrglauben, gegen die Mystifizierung von ein paar Zentimetern Gewebe?

Endlich Freiheit für die Vagina

Die Kulturwissenschaftlerin Oliwia Hälterlein wünscht sich mehr Gespräche, mehr Aufklärung über die Schleimhaut, die so trivial ist und zugleich heiliggesprochen wird. Auch, die Schleimhaut anders zu benennen – so wie es der schwedische Sprachrat seit 2009 empfiehlt; in Schweden heißen die rosigen Rüschen vaginale Korona. Und es sind nicht zuletzt die Männer, die sich von alten Irrtümern und Machtansprüchen über den weiblichen Körper verabschieden müssen.

Was wäre in unserer Gesellschaft los, wenn wir nicht mehr daran glauben würden? In erster Linie würde es bedeuten, dass für die Vagina dieselbe Freiheit gelten würde wie für den Penis. Also ich denke: Wir würden alle davon profitieren, wenn wir diesen Mythos nicht mehr hätten.

Literatur

  • Oliwia Hälterlein und Aisha Franz: Das Jungfernhäutchen gibt es nicht. Maro Verlag 2022

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