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Mutterliebe – Wie Frauen mit einem Mythos ringen

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Marie-Dominique Wetzel
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Nicht nur am Muttertag feiern wir die Super-Mama, immer für ihre Kinder da, gut gelaunt, engagiert. Dabei ist Mutterliebe keineswegs naturgegeben, wie viele annehmen.

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Der Mythos der angeborenen, bedingungslosen Mutterliebe scheint tief in unseren Vorstellungen verankert zu sein. Die Idee ist ja auch verlockend einfach: Jede Mutter verfügt laut diesem Mythos über einen angeborenen "Mutterinstinkt". Sie weiß demnach also instinktiv, ohne nachzudenken, wie man mit einem Kind richtig umgehen soll.

Und nicht nur das: Auch die Liebe zu ihrem Nachwuchs wird sich – so die gängige Vorstellung – automatisch einstellen, spätestens nach der Geburt. Und als Krone des Ganzen wird die Erfüllung der Mutterrolle diese Person auch noch glücklich machen, weil sich darin ihr eigentlicher Daseinszweck erfüllt. Soweit der Mythos.

Der Mythos Mutterliebe entstand im 17. Jahrhundert

Mit diesem Muttermythos wollte Élisabeth Badinter, ehemalige Philosophie-Professorin an der Elite- Universität École Polytechnique in Paris und Mutter von drei Kindern, aufräumen. 1980 erschien ihr Bestseller "L’amour en plus", der nicht nur in Frankreich für enorme Aufregung sorgte. In Deutschland ist das Buch ein Jahr später unter dem Titel "Mutterliebe – Die Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute" erschienen. Bis heute ist es das Standardwerk, an dem nicht vorbeikommt, wer sich mit "Mutterbildern" auseinandersetzen möchte.

Ich liebe es, Mythen zu entmystifizieren. Und ich habe genau gesehen, wem dieser Mythos nutzte – nämlich vor allem den Männern! Ich habe an den Mythos nicht geglaubt [...] Und als meine Kinder noch klein waren, saß ich oft am Sandkasten und habe die anderen Mütter beobachtet. Und ich habe gesehen, dass die Mehrheit der Mütter sich zu Tode langweilte.

Was ist also mit der vielbeschworenen Mutterliebe, die als Erfüllung des Lebenssinns dargestellt wird?

Früher wurden Neugeborene an Ammen weitergegeben

Élisabeth Badinter wirft in ihrer Arbeit einen Blick in die europäische Geschichte der Mutterschaft:

Wenn im 18. Jahrhundert in einer Familie, die zum Adel oder zur städtischen Bourgeoisie gehörte, ein Kind geboren wurde, dann wurde es noch am gleichen Tag getauft und man gab das Neugeborene zu einer Amme aufs Land. Dort blieb es dann, bis es abgestillt war – und manchmal noch länger. Oft also anderthalb, zwei Jahre.

Élisabeth Badinter war erstaunt über das, was sie da in den historischen Quellen fand: Diese Mütter haben ihre Babys in dieser ganzen Zeit nur selten oder nie besucht. Fast jedes dritte Kind sei noch vor dem ersten Geburtstag gestorben. Aufgrund schlechter Hygiene und Mangelernährung, aber eben auch wegen fehlender Zuwendung.

Rousseau erfindet Mythos der Mutterliebe

Doch der Staat brauchte viele Arbeitskräfte – besonders in der Landwirtschaft, aber natürlich auch für die Armee. Davon hing auch die Macht einer ganzen Nation ab. Den Müttern kam damit also auch eine "staatstragende" Rolle zu. Und genau an diesen Punkten setzte der große Aufklärer Jean-Jacques Rousseau Mitte des 18. Jahrhunderts an.

Rousseau berief sich bei seinen Vorstellungen von Mutterschaft auf die Natur. Seiner Meinung nach hatte die Natur nicht nur vorgesehen, dass Mütter ihre Kinder stillen, sondern auch, dass sie sich aufopferungsvoll um sie kümmern. Dabei führte er auch Vergleiche mit Tieren auf. Dass wir im Tierreich auch sehr unterschiedliche Formen von mütterlicher Fürsorge kennen, wurde ausgeblendet. Der Rückgriff auf die Natur funktionierte aber – und tut es bis heute.

Wie vieles ist das eben ambivalent, weil einerseits tatsächlich auch in unserem Weltbild Natur – natürliche Ernährung, das ist immer gesund, das ist immer gut – eine sehr hohe und positive Bedeutung hat. Gleichzeitig ist es natürlich auch wie eine Fessel. Wenn die Natur das vorgibt, dann muss das so gemacht werden. Und wenn eine Frau keine Kinder haben möchte oder auch keine haben kann, dann ist sie gewissermaßen ein creepy Wesen, das gegen die Natur handelt, lebt, sich verhält.

Jugend in Westdeutschland bevorzugt männlichen Alleinversorger

Die Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2019 hat danach gefragt, wie sich Jugendliche ihr künftiges Familienleben vorstellen – angenommen, sie wären 30 Jahre alt und hätten ein zweijähriges Kind.

Interessanterweise gibt es immer noch große Unterschiede zwischen Ost- und West-Deutschland: im Westen wünschen sich 58 Prozent der jungen Männer einen Haushalt, in dem sie Allein- oder Hauptversorger sind. Und auch 56 Prozent der jungen Frauen favorisieren dieses Modell.

Jugend im Osten bevorzugt Gleichberechtigung

Im Osten wollen das männliche Allein- oder Hauptversorgermodell nur 38 Prozent der Männer und 31 Prozent der Frauen. Die Lebensrealität in der ehemaligen DDR, in der Mütter viel häufiger vollzeitbeschäftigt waren, scheint also bis heute nachzuwirken. Das bedeutet auch, dass wir stark dadurch geprägt sind, welche Vorbilder es im Umfeld gibt und wie die eigenen Eltern sich die Care-Arbeit in der Familie aufgeteilt haben.

Mütter werden mit der Familienarbeit allein gelassen

"Mental Load" – dieses Schlagwort macht seit einigen Jahren Furore. Darunter fällt alles, was Mütter "so eben mal nebenher machen" und ständig im Kopf haben müssen: Passen den Kindern die Schuhe noch? Wann steht die nächste Klassenarbeit an? Müssen die Impfungen aufgefrischt werden? Was kriegt die Schwiegermutter zum Geburtstag? Und wie schafft man es, dass sich die Tochter wieder mit ihrer besten Freundin versöhnt?

Die Organisation des Alltags und des Haushalts bleibt meist an den Müttern hängen. Außerdem werden vor allem sie für das psychosoziale Wohlbefinden der Kinder verantwortlich gemacht – ebenso für den schulischen Erfolg. Und dabei spielt es keine Rolle, ob Mütter ganz oder halbtags arbeiten. Neben den perfekten Übermüttern auf Social Media scheinen Mütter es sowieso nie richtig machen zu können.

Alle Menschen haben den Instinkt, Kinder zu beschützen

Gabriele Haug-Schnabel leitet die "Forschungsgruppe Verhaltensbiologie des Menschen" in Kandern bei Freiburg, die sie vor 30 Jahren mitbegründet hat. In ihrem Team arbeiten Fachleute für Verhaltensbiologie, Psychologie und Pädagogik zusammen. Die These, Mutterliebe wäre allen Müttern angeboren, sei wissenschaftlich nicht haltbar, sagt die Verhaltensbiologin. Wie intensiv und liebevoll sich eine Mutter um ihre Kinder kümmert, sei schon immer individuell sehr unterschiedlich gewesen.

Es sind mit Sicherheit nicht nur Mütterinstinkte. Weil, es kann Väter genauso betreffen. Und es kann auch ohne Weiteres angeheiratete, also aus zweiter Ehe oder so – da kann es in gleichstarkem Maße stattfinden. Und da ist keine Genetik da!

Und auch die Vorstellung, es gäbe so etwas wie einen "Mutter-Instinkt" sei nach Haug-Schnabel irreführend. Einen Beschützer-Instinkt gegenüber Kindern gebe es sehr wohl – allerdings bei so gut wie allen Menschen.

Literaturtipp

Elisabeth Badinter: Mutterliebe – Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute. Piper 1999

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