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Gefährliche Wege zur Immunität - Impfstoffe und ihre Erprobung

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AUTOR/IN
Wolfgang U. Eckart

Die Geschichte der Impfstoffsuche und -entwicklung ist zweifellos eine Erfolgsgeschichte; sie zeigt aber auch, dass es oft um Politik, Skrupellosigkeit und Geld ging. Das ist heute bei der Corona-Pandemie nicht anders.

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Syphillis

In der entscheidenden ersten Phase der Serumforschung um 1900 gab es ethisch höchst bedenkliche Zwischenfälle, die die breite Öffentlichkeit erstmals auf das Problemfeld „Humanexperiment“ aufmerksam machten.

Ein Beispiel hierfür ist der Fall Neisser. Der Entdecker des Gonococcus, Albert Neisser, hatte in den Jahren vor 1900 als Direktor der Breslauer Dermatologischen Klinik das Serum syphilitischer Personen nicht erkrankten minderjährigen jungen Frauen injiziert, ohne die Betroffenen darüber zu informieren.

Neisser hatte gemeint, im Dienste des Erkenntnisfortschrittes seine Experimente ungefragt durchführen zu dürfen. Vier von acht jungen Frauen der Unterschicht im Alter von 17 und 19 Jahren erkrankten nach den Serum-Injektionen an der Syphilis.

Der Fall erregte die Öffentlichkeit in hohem Maße und führte 1900 zu einer ersten strengen Regelung des humanexperimentellen Forschens in preußischen Krankenhäusern.

Abbildung aus dem Buch: "Syphilitische Krankheiten" von "Dr. F. König. (Foto: IMAGO, Copyright: imago/imagebroker)
Abbildung aus dem Buch: "Syphilitische Krankheiten" von "Dr. F. König's Ratgeber in gesunden und kranken Tagen" vom 18.10.1918.

Ein Impfstoff musste dann allerdings nicht entwickelt werden, nachdem ab 1910 erste chemische Medikamente gegen die Geschlechtskrankheit eingesetzt wurden und seit 1945 Antibiotika existieren.

Tuberkulose

Im Zusammenhang mit den Bemühungen um einen wirkungsvollen Tuberkuloseschutz muss ein tragischer Impfzwischenfall erwähnt werden, in dessen Folge 1931 vom Reichsministerium des Innern „Richtlinien für neuartige Heilbehandlung und für die Vornahme wissenschaftlicher Versuche am Menschen“ erlassen wurden, die das wissenschaftliche Humanexperiment in damals innovativer und vorbildlicher Weise regelten.

Am 24.02.1930 hatte der Leiter des Allgemeinen Krankenhauses in Lübeck mit Hilfe des Lübecker Gesundheitsrates eine als Großversuch angelegte Tuberkulose-Schutzimpfungsaktion durchgeführt, in deren Folge 14 Kinder starben; die Presse schrieb vom „Lübecker Totentanz“.

Als Reaktion auf diesen Zwischenfall kam es zu einer breiten politischen Diskussion und schließlich zur Abfassung jener berühmten Richtlinien, die am 28. Februar 1931 vom Reichsminister des Inneren den Landesregierungen zugestellt wurden.

Präziser und umfassender als in vielen späteren Deklarationen wurden alle auch noch heute relevanten Gesichtspunkte für die Vorgehensweise bei neuartigen Heilbehandlungen sowie bei wissenschaftlichen Versuchen am Menschen angesprochen.

Kinderlähmung

In der Anfangsphase der Erfolgsgeschichte im Kampf gegen die Kinderlähmung, als man 1955 noch auf einen Impfstoff mit abgetöteten Erregern setzte, waren durch fatale Produktionsfehler 120.000 Polio-Impfdosen auf den Markt gelangt, die noch lebende nicht abgeschwächte Viren enthielten.

Ein achtjähriger Junge wird gegen Kinderlähmung geimpft. (Foto: IMAGO, Imago)
Der Arzt Dr. Jonas Salk impft einen achtjähjrigen Jungen gegen Kinderlähmung (1954). 1955 wurde der von Salk entwickelte Impfstoff zugelassen, 1960 eine Schluckimpfung von Albert Sabin.

Von den Kindern, die diesen Impfstoff erhielten, entwickeln 40.000 leichtere Formen der Poliomyelitis, die das zentrale Nervensystem nicht betrafen.

56 aber erkrankten am langjährigen Vollbild einer paralytischen Kinderlähmung, und fünf Kinder starben bald nach der Impfung. Infolge der Injektion lebender Viren kam es zu weiteren Infektionen. 113 Patienten erlitten eine paralytische Polioinfektion mit schwersten Lähmungen, fünf von ihnen mit Todesfolge.

Der Vorfall ging als Cutter-Unglück, benannt nach den herstellenden Cutter-Laboratorien, in die Impfgeschichte ein.

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Wolfgang U. Eckart