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Die documenta in Kassel – Weltkunst in der deutschen Provinz

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Stefanie Blumenbecker
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Die documenta ist eine der wichtigsten Kunstausstellungen weltweit. In Kassel war sie nicht immer beliebt. Auch die aktuelle documenta fifteen, die am 18. Juni 2022 öffnet, ist umstritten.

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documenta fifteen: ungewöhnliches Konzept von Ruangrupa

Antisemitismusvorwürfe, abgesagte Veranstaltungen – die documenta fifteen stand auf der Kippe. Jetzt findet sie statt. Das Konzept von Ruangrupa ist neu und ungewöhnlich. Es geht ums Teilen, um Nachhaltigkeit und Kooperation.

Erste Documenta auf Ruinen im Jahr 1955

Die erste documenta entsteht 1955 als ein Begleitprogramm der Bundesgartenschau buchstäblich auf Ruinen. Inmitten des zerstörten Kassel wird das Fridericianum zur temporären Ausstellungshalle. Das Gebäude ist immer noch stark beschädigt, die Böden aus nacktem Beton und die Ziegelmauern unverputzt. Mit weißen und schwarzen Kunststofffolien werden Fenster abgedeckt und die dreckigen Ecken kaschiert.

Das Kasseler Publikum bekommt darin die große Kunst der Moderne zu sehen: Pablo Picasso, Marc Chagall, Paul Klee, Henry Moore und viele andere. Expressionismus und Abstraktion. Freie Farben und Formen. 147 Künstler werden gezeigt, nur sieben davon Frauen.

130.000 Menschen kommen 1955 nach Kassel, um freie Kunst zu sehen

Während des Nationalsozialismus galten diese Künstlerinnen und Künstler als entartet. Ihre Kunst: weggesperrt und verboten. Für viele junge Menschen ist die erste documenta damit auch die erste Berührung mit internationaler Kunst, die in Freiheit entstanden ist. Mehr als 130.000 Menschen kommen dafür nach Kassel.

Bundespräsident Theodor Heuss (mit Zigarre) im Gespräch mit Professor Arnold Bode (links) vor einem Picasso-Gemälde beim Rundgang über die erste documenta im Fridericianum in Kassel am 16. September 1955 (Foto: dpa Bildfunk, picture-alliance/ dpa | Eberth)
Bundespräsident Theodor Heuss (mit Zigarre) im Gespräch mit Professor Arnold Bode (links) vor einem Picasso-Gemälde beim Rundgang über die erste documenta im Fridericianum in Kassel am 16. September 1955

Heute weiß man: Von den 21 Personen, die im Arbeitsausschuss der ersten documenta waren, waren zehn in NSDAP, SA oder SS.

Kunsthistoriker der documenta war Mitglied der SA

In den Fokus der Forschung rückte Werner Haftmann, der sogenannte kunsthistorische "Kopf" der documenta. Haftmann war ebenfalls Mitglied der SA sowie der NSDAP und war an Kriegsverbrechen beteiligt. Trotzdem wird er in der jungen Bundesrepublik zum documenta-Mann und zum wichtigsten Fürsprecher für moderne Kunst, ebenfalls für die zweite Ausstellung der documenta im Jahr 1959.

Werner Haftmann spricht während der Eröffnung der documenta 2 im Jahr 1959 in Kassel. Im Publikum vorn mit Brille der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn mit Gattin und rechts daneben der Initiator der documenta, Arnold Bode (Foto: dpa Bildfunk, picture-alliance/ dpa | Eberth)
Werner Haftmann spricht während der Eröffnung der documenta 2 im Jahr 1959 in Kassel. Im Publikum vorn mit Brille der hessische Ministerpräsident Georg August Zinn mit Gattin und rechts daneben der Initiator der documenta, Arnold Bode

Die Wahrnehmung von Kunst bleibt in Deutschland trotz der Aufbruchsrhetorik der documenta-Leitung ziemlich eindimensional. Das ist besonders brisant, denn die documenta ist von Anfang an nicht irgendeine Ausstellung. Sie wirkt diskurs-bildend und politisch. Das heißt, sie legt fest, welche Kunst wichtig ist, welche Künstlerinnen und Künstler dazu gehören und welche nicht.

documenta-5-Kurator Harald Szeemann: Hauptsache subjektiv

1972 tritt der Kurator Harald Szeemann an, die fünfte Ausgabe der Ausstellung grundlegend zu verändern. Szeeman erfindet nicht nur die documenta neu, sondern vor allem auch den Beruf des Kurators. Anfang der 70er Jahre tritt er als Alleinherrscher auf und gestaltet die Ausstellung komplett nach seinem Gusto.

Harald Szeemann, alleiniger Kurator der Documenta 5 im Jahr 1972 (Foto: IMAGO, IMAGO / Leemage)
Harald Szeemann, alleiniger Kurator der Documenta 5 im Jahr 1972

Szeemann plädiert für eine radikal subjektive Sichtweise auf die Kunst und sagt, dass die Auswahl im Grunde gar nicht nach demokratischen Gesichtspunkten getroffen werden kann. Im Kunstkontext sei nur eine subjektive Auswahl möglich.

Kasselaner meinen: Die aktuelle documenta ist immer die Schlimmste

Die Kasselaner müssen im Laufe der documenta immer wieder viel aushalten: Vor allem die Außenkunstwerke werden als hässlich und unkünstlerisch empfunden. Doch vor allem die aktuelle documenta sei immer die Schlimmste, so lautet auch historisch gesehen die häufige Einschätzung der Menschen in Kassel.

documenta 2022: jung, postkolonial, nachhaltig

Die aktuelle documenta im Jahr 2022 wird englisch ausgesprochen: "documenta fifteen". Und sie wird von einem zehnköpfigen Team kuratiert. Nicht länger soll ein einzelner Kurator subjektiv über den Kanon der Kunst entscheiden.

Pressekonferenz in Kassel: Es ist das erste Mal in der Geschichte der documenta, dass die künstlerische Leitung einem Kollektiv - der Gruppe Ruangrupa - anvertraut wird (Foto: IMAGO, IMAGO / epd)
Es ist das erste Mal in der Geschichte der documenta, dass die künstlerische Leitung einem Kollektiv - der Gruppe Ruangrupa - anvertraut wird

Das Kuratoren-Kollektiv Ruangrupa aus Jakarta hat einen Begriff für sein Kunstverständnis: Lumbung – im Indonesischen eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, die die Ernte für alle bereithält. Das soll die documenta fifteen sein.

Kritik aus der Szene: Agrarwirtschaft statt Weltkunst

Im Vorfeld hagelte es Kritik aus der Kunstszene: Ruangrupa betreibe Sozialromantik, hieß es, Gutmenschentum, willkürlich, unreflektiert, ohne eindeutige Haltung. Das Lumbung-Konzept sei laut Kritiken Agrarwissenschaft, aber kein Konzept für eine Weltkunstausstellung.

Ruangrupa haben Künstler und Künstlerinnen eingeladen, die häufig auch in Kollektiven arbeiten und vorwiegend aus dem globalen Süden stammen. Also aus Ländern und Kulturen, die bisher nur in Ausnahmen auf Ausstellungen in Europa und den USA zu sehen sind.

Bundesweiter Antisemitismus-Skandal vor der Eröffnung

Neben der Kunst von Kindern sind auch Kollektive und Initiativen aus Afrika, der Karibik und dem Nahen Osten eingeladen. Ein Internet-Blogger aus Kassel stellte den Vorwurf in den Raum, dass einzelne der Gruppen und Künstler dem anti-israelischen BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) nahestehen würden, ein Netzwerk, das zum Boykott israelischer Produkte aufruft und vom Bundestag als antisemitisch eingestuft wird.

Die documenta-Leitung bietet als Folge Gesprächsforen an, welche vom Zentralrat der Juden kritisiert und daraufhin wieder zurückgezogen werden. In einem öffentlichen Schreiben entschuldigt sich das Kuratoren-Kollektiv. Seitdem ist der Streit abgeflaut.

Fridericianum wird zur Schule

In vielerlei Hinsicht führen Ruangrupa künstlerische Konzepte vom Enfant terrible der documenta fort: von Joseph Beuys. Sie nehmen seine Aussage, jeder Mensch sei ein Künstler, ernst und setzten sie in Kassel um: Das Fridericianum wird eine Schule, Kinderkunstwerke werden ausgestellt und abgehängte Stadtviertel zum Ausstellungs- und Handlungsort.

In der Karlsaue vor der Orangerie errichtet das Kuenstlerkollektiv "The Nest" aus Kenia einen Ausstellungsbau aus Altkleidern, hier soll auf das Problem der Entsorgung von Textilien und Elektromüll in die Länder des globalen Südens aufmerksam gemacht werden (Foto: IMAGO, IMAGO / epd)
In der Karlsaue vor der Orangerie errichtet das Kuenstlerkollektiv "The Nest" aus Kenia einen Ausstellungsbau aus Altkleidern, hier soll auf das Problem der Entsorgung von Textilien und Elektromüll in die Länder des globalen Südens aufmerksam gemacht werden

Ruangrupa schaut anders auf die Stadt als alle Kuratoren davor. Kunstkritiker und -expertinnen befürchten bereits das Ende der documenta. Vielleicht darf man aber einfach nur gespannt sein, was eine künstlerische Perspektive vom anderen Ende der Welt aus der deutschen Provinzstadt in den Kasseler Hügeln macht.

documenta: aktuelle Beiträge

Berlin

Internationale Filmfestspiele Berlin Bären-Verleihung mit Palituch: Die Berlinale hat ihren Skandal

Die Preisverleihung bei der Berlinale wurde überschattet von Preisträgern, die antiisraelische Hassparolen formulierten und einem Publikum, das dazu schwieg. Das Filmfestival hat nun seinen Skandal wie die Documenta vor zwei Jahren, meint Filmkritiker Rüdiger Suchsland.

SWR2 am Morgen SWR2

Museum Was wird aus der documenta? Braucht die Weltkunstausstellung einen Neustart?

Er dürfte vielen noch in Erinnerung sein: der Antisemitismus-Skandal der letzten documenta in Kassel. Seitdem steht vieles bei der Weltkunstausstellung in Frage. Nun trat vor Kurzem sogar die komplette Findungskommission zurück, die eigentlich die künstlerische Leitung für die nächste documenta finden sollte. Darum ist jetzt auch fraglich, ob die 16. Ausgabe der Weltkunstschau überhaupt wie geplant 2027 stattfinden kann.

SWR2 am Samstagnachmittag SWR2

Bonn

Ausstellung Wuchernde Collagen – Werke der Künstlerin Anna Oppermann in der Bundeskunsthalle Bonn

Feminismus, Macht, Ökonomie - Anna Oppermann hat viele Themen, die heute noch diskutiert werden, in ihren Kunstcollagen verarbeitet. In der Bundeskunsthalle kann man nun ihre rekonstruierten Werke sehen.

SWR2 am Morgen SWR2

Zeitwort 15.07.1955: Die erste documenta wird eröffnet

Moderne Kunst in der Provinz – das gab es ab 1955, als in Kassel die erste "documenta" eröffnet wurde. Schon bald wurde sie zum Mekka für Kunstinteressierte aus aller Welt.

SWR2 Zeitwort SWR2

Zeitwort 16.03.1982: Joseph Beuys startet sein Projekt "Stadtverwaldung"

Der 1921 geborene Joseph Beuys war eigenwillig, ziemlich deutsch und schnell berühmt. Ein „idealtypischer Gegenspieler“ Andy Warhols, der gerne provozierte und bedeutungsschwere Aktionen zelebrierte.

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Was geht - was bleibt? Zeitgeist. Debatten. Kultur. Die documenta fifteen endet: Was bleibt von der deutschen Erinnerungspolitik?

Die documenta fifteen geht zu Ende – und nicht wenige Menschen würden jetzt hinzufügen: endlich. Was geht, wenn die größte deutsche Kunstausstellung für viele ein Fiasko ist? Die eine Seite beklagt, mit der Documenta habe man Antisemitismus in Deutschland wieder öffentlich ausstellen können, während die andere Seite meint, hinter der Kritik an den Künstler:innen stünde Rassismus.  Ein Scherbenhaufen also, zumindest in der öffentlichen Debatte.

Und was bleibt nun im Nachhinein von dieser documenta fifteen? Lässt sich aus diesem Scherbenhaufen etwas machen – zum Beispiel eine Auseinandersetzung über die deutsche Geschichts- und Gedenkpolitik und die Frage, welchen Platz die kolonialen Verbrechen darin neben der Shoah einnehmen können?

Als gescheitert würde die Journalistin Charlotte Wiedemann die documenta nicht bezeichnen. Wiedemann hat viel aus dem Ausland berichtet und beschäftigt sich mit unterschiedlichen Erinnerungskulturen. Sie hat die documenta besucht und dort viele Anregungen gefunden, die sie in der deutschen Debatte vermisst hat: “Über die documenta würde eine Glocke der Deutschtümelei gestülpt. Das Problem war für mich nicht die documenta selbst, sondern unser Umgang damit.” 

Anders sieht das der Kunstkritiker Hanno Rauterberg, er sagt, die mangelnde Kommunikationsbereitschaft habe den Austausch erschwert: “Der Kollektiv-Gedanke der documenta hat Kritik an einzelnen Künstlern erschwert.” Schnell habe es geheißen, Kritik meine nicht den Einzelnen, sondern alle und damit die gesamte documenta. Kritik sei deshalb von Ruangrupa schnell als rassistisch wahrgenommen worden.

Und auch der Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank und engagiert hätte sich gewünscht, dass die verschiedenen Seiten wirklich miteinander ins Gespräch kommen: „Es wurde zwar viel debattiert, aber da war das Gefühl, dass man aneinander vorbeiredet.“

Viel Stoff also für eine Debatte über die deutsche Erinnerungspolitik!

Charlotte Wiedemanns Buch „Den Schmerz der anderen begreifen“ ist im Mai 2022 bei Ullstein erschienen.

Unterschiedliche Positionen und Erklärungsansätze zur documenta-Debatte findet ihr in der Ausgabe 09/2022 von Politik & Kultur, der Zeitschrift des Deutschen Kulturrats – alles abrufbar unter https://politikkultur.de/archiv/ausgaben/nr-9-22/

Die Bildungsstätte Anne Frank, deren Direktor Meron Mendel ist, hat eine Podiumsdiskussion zu Kunst und Antisemitismus veranstaltet, die ihr hier anschauen könnt: https://www.bs-anne-frank.de/events/kalender/zum-antisemitismusskandal-auf-der-documenta-fifteen

Bei „Was geht, was bleibt“ haben wir uns schon öfter mit den Themen Kolonialismus und Erinnerungspolitik beschäftigt, zum Beispiel in diesen beiden Folgen:
https://www.swr.de/swr2/programm/blinder-fleck-der-erinnerungskultur-unser-kolonialistischer-blick-nach-osteuropa-100.html
https://www.swr.de/swr2/programm/rueckgabe-von-raubkunst-dekolonisierung-oder-reine-symbolpolitik-100.html

Habt ihr noch mehr Themen, die wir uns dringend anschauen sollten? Schreibt uns auf kulturpodcast@swr.de

Host: Pia Masurczak
Redaktion: Pia Masurczak und Kristine Harthauer

Joseph Beuys

Porträt zum 100. Geburtstag Joseph Beuys – Revolutionär der Kunst

Joseph Beuys polarisiert mit seiner Kunst: Manche feiern ihn als Visionär, andere belächeln Fett und Filz oder meinen, er verharmlose seine Vergangenheit. Was hat der Künstler verändert?

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Kunst

Porträt zum 90. Geburtstag Gerhard Richter – Der Über-Maler

Gerhard Richter gilt als teuerster Maler der Gegenwart. Interviews gibt er fast nie. Die Bilder sprechen für sich. Am 9. Februar 2022 war sein 90. Geburtstag.

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Porträt Marina Abramović – Prägende Performance-Künstlerin der Gegenwart

Tagelang stillsitzen, sich bewerfen und verletzen lassen: Mit ihren Performances sprengt Marina Abramović die Grenzen der Kunst und geht dabei über eigene.

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Geschichte Käthe Kollwitz – Friedensaktivistin und Grafikerin

Käthe Kollwitz (1867 - 1945) war vieles: begabte Künstlerin, glühende Pazifistin, moderne Frau. Ihre Meisterwerke gegen soziales Elend und Krieg sind auch 75 Jahre nach ihrem Tod noch aktuell.

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Porträt zum 175. Geburtstag Südsee-Maler Paul Gauguin – Neuer Blick auf Exotik und Missbrauch

Wie begegnet man Paul Gauguin, einem der bedeutendsten Maler des 19. Jahrhunderts, mit einem modernen Verständnis von Menschenrechten und kultureller Aneignung?

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Kunstgeschichte Tiepolos Malerei – Dem Himmel so nah

Federleichter Pinselstrich und brillante Farben: In seiner Malerei feierte der Barockmaler Giovanni Battista Tiepolo venezianische Heiterkeit. Er gestaltete auch das berühmte Deckenfresko in der Würzburger Residenz.

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Deutsche Einheit Kunst aus der DDR – Neue Akzeptanz für unterschätzte Werke

Noch immer werden viele Kunstschaffende mit Ostbiografie auf ihre DDR-Herkunft reduziert, darunter Angela Hampel oder Christa Jeitner.

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