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Der Mensch als geologische Kraft – Leben wir im "Anthropozän"?

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Jeanette Schindler
Jeanette Schindler (Foto: SWR, Jeanette Schindler)
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Ulrike Barwanietz
Candy Sauer

Der Mensch lässt Gletscher schmelzen, rottet Tiere und Pflanzen aus, überschüttet die Erde mit Müll. Deshalb habe ein neues Erdzeitalter begonnen, argumentieren Geologen: das Anthropozän.

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Die "Arbeitsgruppe Anthropozän" soll im Auftrag der International Commission on Stratigraphy prüfen, ob das "Anthropozän" als neues Erdzeitalter eingeführt werden muss.

Die renommierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind der Auffassung, dass der Mensch so stark in das Erdsystem eingreift, dass sich die Veränderungen auch in geologischen Schichten widerspiegeln, sich dort ansammeln und bis in die ferne Zukunft erhalten bleiben werden.

Nach dem Holozän: Beginnt das Anthropozän mit der Atombombe?

Geologen teilen die Entwicklung der Erde in unterschiedliche Abschnitte ein. Das letzte deklarierte Erdzeitalter ist das "Holozän", manche nennen es auch "Nacheiszeitalter". Aber wann hätte das Anthropozän begonnen? Wann hätte das Holozän, in dem wir uns jetzt befinden, geendet?

Die zeitliche Grenze sieht die internationale "Arbeitsgruppe Anthropozän" in der Mitte des 20. Jahrhunderts.

Geosignale in Eis, Tiefsee, Höhlen und Korallenriffen

Die "Arbeitsgruppe Anthropozän" sucht auf der ganzen Erde nach Geosignalen: in polaren Eis- und Schneeschichten, in der Tiefsee, in Höhlen und selbst in den Skeletten abgestorbener Korallenriffe sucht sie nach menschengemachten Ablagerungen.

Unter Städten ist die Schicht an diesen sogenannten Technofossilien schätzungsweise zwei Meter dick, anderswo etwa zehn bis zwanzig Zentimeter. Nach Berechnungen israelischer Wissenschaftler machten menschengemachte Materialien zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa drei Prozent im Verhältnis zur Biomasse aus.

Korallenriff in Mexiko: Überall auf der Erde hinterlässt der Mensch Ablagerungen, die eine neue Erdschicht bilden (Foto: IMAGO, IMAGO / VWPics)
Korallenriff in Mexiko: Überall auf der Erde hinterlässt der Mensch Ablagerungen, die eine neue Erdschicht bilden

Geologen beobachten langfristige Veränderungen

Seit Jahrzehnten ist klar, dass fossile Verbrennungsprozesse – Kohlekraftwerke, Autoverkehr, Flugverkehr – und der damit verbundene CO2-Ausstoß für die Klimaerwärmung verantwortlich sind. Aber wir tun nichts dagegen. Fehlt uns in unserer schnelllebigen Art zu leben das Gefühl von Zeit?

Im Gegensatz zu Meteorologen, die Wetterphänomene seit Beginn der Wetteraufzeichnungen im 19. Jahrhundert untersuchen, erforschen Geologen Wetterstrukturen in einem Zeitraum von Millionen Jahren. Aus solchen Betrachtungen lassen sich viel langfristigere Auswirkungen erkennen und Rückschlüsse auf heute ziehen.

60.000 Jahre Hochwassergeschichte der Eifel

Frank Sirocko, Professor für Geowissenschaften an der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz, und sein Team haben sich als Ziel gesetzt haben, Klima und Wetter der Eifel in den vergangenen 60.000 Jahre zu dokumentieren. Jedes Jahr mit seiner eigenen Charakteristik.

Hochwasserkatastrophe im Erftkreis: War das Medienecho für die geologische Hochwasserforschung in der Eifel vor allem durch das nicht weit entfernte überflutete Ahrtal im Jahr 2021 so hoch? (Foto: IMAGO, IMAGO / Future Image)
Hochwasserkatastrophe im Erftkreis: War das Medienecho für die geologische Hochwasserforschung in der Eifel vor allem durch das nicht weit entfernte überflutete Ahrtal im Jahr 2021 so hoch?

Die Mainzer Geologinnen und Geologen konnten nachweisen, dass es in wärmeren Phasen der Erdgeschichte öfter zu Hochwassern kam als in kälteren. Die Forschung in den Eifelmaaren hatte Ende August 2021 viel mediale Aufmerksamkeit bekommen. Aber hätte es ein solches Medienecho gegeben, wenn nicht Wochen zuvor ein verheerendes Hochwasser das nicht weit entfernte Ahrtal überflutet hätte?

Bedeutung des Anthropozäns als offizieller Akt

Frank Sirocko hält das Anthropozän rein erdgeschichtlich für unbedeutend, aber auch er hofft, eine offizielle Einführung könnte so viel Aufmerksamkeit erzeugen, dass sie die Menschen sensibilisiert.

So sehen das immer mehr besorgte Fachleute. Etwa die renommierte Meeresforscherin Prof Antje Boetius. Sie hat zum Beispiel das "Theater des Anthropozäns" in Berlin mit gegründet, das in Zusammenarbeit von Naturwissenschaft und Kunst sowohl Wissen ästhetisch erfahrbar machen als auch für die Fragilität des planetarischen Habitats sensibilisieren will.

Es wäre naiv zu glauben, dass der offizielle Akt, ein neues Erdzeitalter zu benennen, die Menschheit zum Umdenken bringt. Aber würde die Wissenschaft es entsprechend bedeutungsvoll präsentieren, wäre es ein starkes Statement.

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Porträt zum 90. Geburtstag Nobelpreisträger Paul Crutzen – Vom Ozonloch zum Anthropozän

Der Atmosphärenforscher Paul J. Crutzen (1933 - 2021) hat als Erster gezeigt, wie menschliche Aktivitäten die Ozonschicht schädigen.

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Literatur

Erle C. Ellis Anthropozän. Das Zeitalter des Menschen – eine Einführung

Anthropozän: Wissenschaftliche Kontroversen um ein neues Erdzeitalter. Rezension von Gerhard Klas. Aus dem Englischen von Gabriele Gockel oekom Verlag ISBN 978-3-962-38177-6 256 Seiten 18 Euro

SWR2 lesenswert Kritik SWR2

Jedediah Purdy Die Welt und wir. Politik im Anthropozän

Jedediah Purdy denkt höchst engagiert eine umweltpolitische Theorie des Gemeinwohls an, verheddert sich aber an zu vielen Themen.
Rezension von Pascal Fischer.
Aus dem Englischen von Frank Jakubzik
Suhrkamp Verlag. 187 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-518-07638-5

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